Als ich meine Zusammenarbeit mit der aserbaidschanischen Diaspora in Deutschland im Jahre 2011 begann, konnte ich seinerzeit noch nicht wissen, dass meine Mitwirkung bei Veranstaltungen und Feierlichkeiten verschiedenster Art irgendwann viel mehr als nur eine künstlerische oder kulturverbindende Funktion haben würde. Im Gegenteil sah ich mich immer als eine Art „Freund des Publikums“, das einerseits zwar ausländisch war, andererseits aber schon so lange in meinem Land (Deutschland) angekommen zu sein schien, dass ich jene Menschen vor mir gar nicht mehr als „Einwanderer“ oder gar „Ausländer“ wahrgenommen hätte. Die Menschen um mich herum, mit denen ich privat, gesellschaftlich oder zuweilen auch politisch diskutierte, hatten oftmals in vielen Dingen eine ähnliche Denkweise wie ich und – vielleicht noch wichtiger das gleiche Gefühl in Bezug auf Heimat, Sicherheit und gesellschaftlichen Umgang miteinander. Doch dies sollten zunächst verschwommene, eher wenig definierbare Eindrücke bleiben, die stets in Abhängigkeit von Anlass, Person oder Gelegenheit rasch wechseln konnten und mich auf die Frage brachten, was ich denn eigentlich an jenen Menschen, die ich damals kaum kannte und deren Land ich zuvor niemals besucht hatte, als positiv oder auch familiär empfinden mochte. War es die Sprache, die zu lernen ich mich bereits längere Zeit befleissigte? War es die Offenheit und Bereitwilligkeit, mit der diese Leute mich behandelten, trotz dass wir uns erst seit kurzem kannten? War es die Freude, die ich empfand, sobald ich ein bekanntes Gesicht sah, zu dem ich meist noch einen Namen zuordnen konnte? All dies wusste ich zu Anfang nicht und dennoch schien mir etwas in meinem Inneren zu sagen: „Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.“
Nun gut, die bekannten Worte Johann Wolfgang von Goethes aus dem „Osterspaziergang“ waren zwar nicht unbedingt die erste Assoziation, die ich bei unseren zahlreichen Zusammenkünften hatte, aber dennoch umschrieb (und umschreibt) dieses Zitat bis heute recht gut die Atmosphäre, in die ich mich jedes Mal versetzt fühle, wenn ich unsere gemeinsamen Veranstaltungen besuche. Dies gilt seit Anfang dieses Jahres auch und besonders für unser in Berlin ansässiges Aserbaidschanisches Kulturhaus Khari Bülbül e.V. unter der Leitung von Frau Sevda Badaliouri. Dieser Frau, die auch stellvertretende Vorsitzende der Allianz der Aserbaidschaner in Deutschland ist, verdanke ich wesentliche Erkenntnisse darüber, dass es bei allen Gemeinsamkeiten zwischen Deutschen und Aserbaidschanern natürlich auch signifikante Unterschiede zwischen unseren beiden Kulturen gibt, die sich allerdings relativ leicht erfassen lassen, wenn man als Aussenstehende(r) etwas Zeit, Geduld und Neugier aufbringt. Doch hierzu an anderer Stelle mehr. Zunächst möchte ich, ausgehend von einigen persönlichen Eindrücken beschreiben, was der bereits erwähnte Kulturverein Khari Bülbül e.V. eigentlich tut, welche Gründe es für sein Entstehen und Wirken gibt und was mögliche Perspektiven für unsere aktuelle Arbeit sind, die auf ganz verschiedenen Ebenen kulturellen Wirkens stattfindet.
Den wohl wichtigsten Bereich unserer Arbeit bildet die sprachliche Förderung von Kindern und Jugendlichen. Genauer gesagt richten sich die Sprachkurse an eine Klientel, die zwar „aserbaidschanisch-stämmig“, aber keinesfalls mehr rein aserbaidschanisch im Sinne einer monokulturellen Bildung und Erziehung ist. Die Kinder und Heranwachsenden, an die sich die Sprachkurse wenden, leben in Deutschland, besuchen deutsche Schulen und sprechen, zumindest auf den gesamten Alltag bezogen, zumeist Deutsch. Ob letztere Sprache nun als „Mutter“- oder Fremdsprache empfunden wird, kann ich aus blossen Gesprächen mit den jungen Leuten nicht sicher ergründen. Wesentlich ist jedoch eines: Aserbaidschanisch wird im internen Sprachgebrauch als ana dili („Muttersprache“) deklariert. Dies dient in mehrfacher Hinsicht zu einer kulturellen und mentalen Abgrenzung, die umso wichtiger ist, als sich gleich mehrere Dimensionen von Zugehörigkeit überlagern können. Beispiele hierfür sind einerseits der räumliche Lebensmittelpunkt, der sich eindeutig nicht in Aserbaidschan, sondern in Deutschland, genauer gesagt in Berlin, befindet. Diese Stadt beherbergt bei weitem nicht nur Spuren deutscher Identität und Lebensart, sondern bietet auch Angehörigen anderer Kulturkreise ein Zuhause. So wird mancher Jugendliche, aber auch manche ältere Person von sich ohne zu zögern sagen können: „Ich bin zwar in Berlin zu Hause, bin aber kein(e) Deutsche(r), sondern…“ Andererseits kommt bei Aserbaidschaner/-innen, gerade wenn sie aus grösseren Städten stammen, noch die Zugehörigkeit zur russischsprachigen Bevölkerung dazu, die es sowohl als festen Bestandteil der aserbaidschanischen Kultur als auch als Minderheit in Deutschland gibt. In einem solchen Fall geht es darum, dass die Kinder und Jugendlichen nicht nur mit Russisch als Mutter- und Prestigesprache aufwachsen sollen, wie das ja in vielen Ländern der ehemaligen UDSSR der Fall ist, sondern auch ihre angestammte Muttersprache (Aserbaidschanisch) nicht verlernen sollen. In letzterer nämlich sind auch mentale Bilder und Denkweisen vorhanden, die eben nicht einem postsowjetischen, sondern einem explizit muslimischen Kulturkreis entspringen. Dieser letztere droht allerdings bei einer zu schnellen Assimilation, wie man sie häufig bei jungen Aserbaidschaner/-innen beobachten kann, verloren zu gehen.
In der Folge mag zwar schlussendlich noch eine bewusste Erinnerung an die aserbaidschanische Herkunft übrigbleiben, aber ein wirkliches Erfühlen und Verstehen der einstigen Ursprungskultur bleibt auf der Strecke. In diesem Zusammenhang ist auch die Problematik der politischen Verbrämung von „Anpassung“ und „Assimilation“ anzusprechen. Denn genau diese ist es, die durchaus den/die eine(n) oder andere(n) Jugendliche(n) beschäftigen mag. Identitätssuche ist ein normaler Prozess, der bis ins Erwachsenenalter fortdauern kann, wenn nicht bestimmte Fragen zu Lebenslauf, Herkunft und Zugehörigkeit eindeutig beantwortet sind. Der Prozess kann zu einer langen und zermürbenden Suche für den/die Einzelne(n) werden. Denn was nicht in jungen Jahren erlernt bzw. ergründet wurde, bleibt in älteren Jahren meist ein ungelöstes Rätsel.
Um einem solchen „blinden Fleck“ in der eigenen Biographie vorzubeugen, hilft das Aserbaidschanische Kulturhaus Khari Bülbül e.V. den Kindern und Jugendlichen, durch Sprachkurse die interkulturelle Kommunikation zu ermöglichen und sich somit durch die gezielte Verwendung zweier oder gar drei er Sprachen in zwei Kulturen und sicher zu bewegen. Dazu kommen Veranstaltungen mit Fest- und Feiertagscharakter, die die Kinder und Jugendlichen mit den Lehrkräften und Eltern planen und feiern. Hierdurch entwickeln sie neben dem soziokulturellen auch einen emotionalen Zugang zu Land und Leuten. Auch ausserunterrichtliche Bildungsangebote, wie z.B. ein Tanzkurs, helfen dabei, die kreative Seite an ihrem Ursprungsland zu entdecken und sich im Idealfall weiterführend mit musikalischen, literarischen und geschichtlichen Charakteristika zu beschäftigen. Die pädagogische Eignung der Lehrkräfte und deren Bewusstsein über das Prinzip der Ganzheitlichkeit von Bildung und Erziehung ermöglichen es den Kindern und Heranwachsenden, ihr Herkunftsland intensiv, aber dennoch in einer für sie gewohnten Umgebung mit „bekannten Gesichtern“ kennen und schätzen zu lernen. Dies hilft im weiteren Verlauf der eigenen Erlebnisse, in interkulturellen Situationen auch dann adäquat zu reagieren, wenn die Personen nicht bekannt ist oder der Ort, an dem man sich befindet, nicht mehr dem gewohnten Umfeld entspricht. Kurzum: Das auf Ganzheitlichkeit von Bildung und Erziehung beruhende Konzept des Aserbaidschanischen Kulturhauses Khari Bülbül e.V. bietet den Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit des „kulturellen Brückenbaus“ und damit aber auch eine Wiederankopplung an die eigenen Ursprünge. So können sie zwar im Ergebnis durchaus in Deutschland „zu Hause“ sein, aber werden dennoch niemals ihre eigenen Wurzeln vergessen, die schlussendlich auch wichtig für die Formung von Charakter und Geist sind.
Für mich indessen haben sowohl die Unterrichtsstunden im Sprachkurs als auch die ausserunterrichtlichen Aktivitäten immer auch eine horizonterweiternde, aber dennoch vertrauensbildende Komponente. Denn je länger ich mich mit der aserbaidschanischen Kultur in all ihren Facetten beschäftigen konnte, desto besser konnte ich auch meine eigene (deutsche) Kultur und Mentalität erfassen und begreifen. Dies betrifft sowohl positive als auch negative Charakteristika derselben und macht für mich nach wie vor die Liebenswürdigkeit unserer Zusammenarbeit aus. Dies bedeutet freilich nicht, dass ich nicht auch um die negativen Eigenschaften deutscher und aserbaidschanischer Kulturalität wüsste, aber dennoch überwiegen für mich bei weitem die positiven Seiten. Zwei konkrete Beispiele möchte ich in diesem Zusammenhang näher beschreiben.
Im ersten Fall handelt es sich um eine Veranstaltung zum Novruz-Fest. Letzteres wird immer um den 20. März herum gefeiert und läutet den Beginn der warmen Jahreszeit ein. Damit verbunden sind natürlich auch Assoziationen von „Wiederauferstehung“, „Geburt“ oder „Erneuerung“. Dementsprechend finden sich auch Elemente wie gefärbte Eier, selbst gezogenes Gras oder Hühnerküken in modernen Darstellungen des Novruz- Festes, die ihrerseits auch an das europäische Osterfest erinnern. Dieses wiederum wird heutzutage als ein „christliches Fest“ begangen, bei dem die Auferstehung Jesu Christi am dritten Tag nach seiner Kreuzigung im Mittelpunkt steht. Doch genauso, wie das Novruz-Fest bereits in vor-islamischer Zeit entstand und entscheidend durch den Feuerkult der Zarathustrier (persisch: zardusht) geprägt wurde, so hat auch Ostern seine Ursprünge bereits in vorchristlicher Zeit, als germanische Stämme ebenfalls den Frühling durch bestimmte Symbole und Riten willkommen hiessen. Diese Gemeinsamkeiten in Symbolik und Anlass, unabhängig von Religion oder Liturgie, fielen mir sowohl bei unserer gemeinsamen Veranstaltung im Kulturverein als auch bei anderen Feierlichkeiten der gleichen Art immer wieder auf. Ich erkannte dadurch, dass unser Denken und Fühlen in Bezug auf den Frühling und seine Erscheinungsformen ganz ähnlich sind und dies natürlich ein Grund für Zusammenkünfte und damit Geselligkeit ist. Mögen beide Festlichkeiten auch unterschiedliche Ursprünge haben oder in ihrer jeweiligen Ausführung anders gestaltet sein, der Sinn und das mentale Bild dahinter sind nahezu identisch. Insofern habe ich bei Novruz-Veranstaltungen in unserem Verein oder auch ausserhalb niemals Fremdheit empfunden, sondern eher das Gefühl von Zusammengehörigkeit und Menschlichkeit über Ländergrenzen hinweg spüren können. Eine solche Erfahrung wünsche ich mir natürlich auch für unsere Kinder und Jugendlichen im Verein, denen ja beide Feste (mitsamt den entsprechenden Hintergrundinformationen) sicher schon im Alltag begegnet sind.
Der zweite Anlass, der eher einen traurigen Hintergrund hatte, aber dennoch an dieser Stelle Erwähnung finden soll, ist eine Gedenkveranstaltung zur armenischen Okkupation der Region Bergkarabach. Hierzu wurden auch Vertreter der aserbaidschanischen Botschaft Berlin in unseren Verein eingeladen, um den Kindern und Jugendlichen die Hintergründe des Konflikts sowie die bis heute anhaltenden Nachwirkungen aufzuzeigen. Hierzu sahen wir auch einen Dokumentarfilm und hörten mehrere Redebeiträge, die sich neben den historischen Gegebenheiten auch mit dem Gedenken an die gefallenen Soldaten sowie mit den Folgen für deren Angehörige befassten. Ich selbst hatte ebenfalls einen kurzen historischen Überblick in deutscher Sprache vorbereitet, um auf sprachlicher Ebene die Zweisprachigkeit zu gewährleisten, die bei einem so komplexen und ernsten Thema zweifelsohne notwendig war. Doch auch hier gab es einen Aspekt, der uns allesamt (wieder unabhängig von Herkunft und kultureller Zugehörigkeit) einte: Die Trauer um die Opfer.
Beim Angriff auf die Stadt Khojali im Februar 1992 starben 613 Menschen, die meisten davon Frauen Kinder und Alte. Menschen also, denen man unmöglich ein Gefahrenpotenzial unterstellen konnte und auf die sich somit ein Angriff aus militärischer wie moralischer Sicht gänzlich verbot. Dass der Angriff aus einem jahrhundertealten Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um das Gebiet von Bergkarabach resultierte, wusste ich zu jenem Zeitpunkt bereits. Auch die Opferzahlen hatte ich schon einmal gehört und wusste somit, dass mehrheitlich unschuldige Zivilisten bei diesem Überfall umgekommen waren. Die Folgen für die Überlebenden und Vertriebenen allerdings waren mir indes nicht präsent. Vage erinnerte ich mich an die Vertriebenen, die nach 1945 vor der Wehrmacht bzw. der Roten Armee aus den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches geflohen waren. Doch auch hier waren meine Assoziationen zu ungenau, als dass ich beide Anlässe miteinander hätte vergleichen können. Stattdessen wurde mir etwas anderes bewusst: Die Menschen, die aus Khojali geflohen waren, waren nicht selten schwer verletzt und nur mit ihren Kleidern am Leibe knapp mit dem Leben davongekommen. Die Vorstellung, dass nach 1990 – mitten in einer Zeit der Umbrüche und der (vermeintlichen) Beendigung des Kalten Krieges wieder Unschuldige derart leiden mussten, berührten mich zutiefst. Doch auch hier traf, wenn auch in anderer Form, das Prinzip der Universalität vollends zu. Trauer und Leiden stehen in keiner Beziehung zur Herkunft eines Menschen, ebenso wenig Mitgefühl und Empathie. Alle Teilnehmer der Veranstaltung hatten ernste Gesichter, alle waren ergriffen davon, was damals in ihrem Land geschehen war. Auch ich konnte mich dieser Trauer nicht enthalten und fragte mich, weshalb alles soweit hatte kommen müssen. In diesem Fall war ich auch kein „Fremder“ mehr, sondern einfach „Teil der Menschen um mich herum“, obwohl meine Herkunft eine andere war.
Abschliessend möchte ich noch einmal auf den Ursprungsgedanken der Rolle und Absicht des Aserbaidschanischen Kulturhauses Khari Bülbül e.V. zurückkommen und diesen mit den hier geschilderten persönlichen Erkenntnissen verbinden. Die Arbeit in diesem Kulturverein hat mir gezeigt, dass es, bei aller Anpassung an neue Gegebenheiten in einem Land, niemals notwendig ist, seine Ursprünge aufzugeben. Denn wer letztere aufgibt, wird sich selbst irgendwann verlieren. Umgekehrt ist es sehr positiv zwei oder auch mehrere Kulturen genauer zu kennen, unabhängig davon, ob diese Teil der eigenen Herkunft sind oder nicht. Die Sprache selbst, obgleich sie Hauptgegenstand unserer Unterrichtsarbeit ist, stellt hier ein Mittel zur Kommunikation und zum Ausdruck der eigenen Gedankenwelt dar. Ebenso allerdings ist der Ausdruck von Gedanken immer ein Spiegel unserer Seele und dies muss am Ende den Schluss zulassen, dass jemand, der mehrere Sprachen spricht, auch mehrere Schattierungen seiner Seele für die Aussenwelt sichtbar machen kann. Ich jedenfalls habe durch die Arbeit mit dem Aserbaidschanischen Kulturhaus Khari Bülbül e.V. wesentliche Dinge über die Verbindung zwischen Sprache und Denken, aber auch über die Universalität menschlicher Gefühle und Emotionen in verschiedenen Situationen gelernt. Diese Erfahrungen helfen mir freilich im Alltag oftmals, Menschen differenzierter zu betrachten, aber auch dabei die eigenen kulturellen Eigenschaften aus Bildung, Brauchtum und Erziehung besser zu reflektieren und weiter zu entwickeln. Hierfür möchte ich mich abschliessend noch einmal herzlich bei allen Mitgliedern des Aserbaidschanischen Kulturhauses Khari Bülbül e.V. bedanken und wünsche mir, dass unsere Zusammenarbeit in Zukunft auch weiterhin fruchtbringend für die Beziehung zwischen unseren beiden Ländern sein möge.
Matthias Volk, Publizist, Potsdam
IRS