Die alten Felszeichnungen in Aserbaidschan, die ein wichtiges Bindeglied in der Entwicklung der urzeitlichen Kunst Eurasiens darstellen, sind der grösste Fund dieser Art in Kaukasien. Gegenwärtig sind mehrere Zehntausend solcher Bilder bekannt, die sich durch ihren sehr weiten zeitlichen Entstehungsrahmen, ihre Themenvielfalt sowie ihre hohe künstlerisch-ästhetische Qualität auszeichnen. Viele dieser Darstellungen gelten zu Recht als weltweit einzigartige Beispiele der Felskunst. Sie geben Auskunft über die komplexen Prozesse der kulturgeschichtlichen Entwicklung von Urgesellschaften auf dem Territorium Aserbaidschans und sind ein herausragender Bestandteil seines Kulturerbes.
Es ist bemerkenswert, dass sich auf dem relativ kleinen Gebiet Aserbaidschans umfangreiche Fundstätten urzeitlicher Felskunst finden lassen, die jeweils unterschiedliche geografische Bedingungen aufweisen. Dazu gehören die Flachgebirge am süd-östlichen Ende des Grossen Kaukasus, sandige und felsige Ebenen auf der Halbinsel Abscheron sowie Täler und Hochebenen des Kleinen Kaukasus. Von all diesen Fundstätten kommt dem einzigartigen Qobustan-Reservat, das 60 Kilometer von Baku entfernt liegt, eine besondere wissenschaftliche, künstlerische und ästhetische Bedeutung zu.
Erste Funde von Felsbildern in Qobustan machten Forscher in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts. Die seither in diesem Gebiet durchgeführten Ausgrabungs- und Forschungsarbeiten bestätigen die immense wissenschaftliche Relevanz und die Einzigartigkeit dieses Ortes als des weltweit vielfältigsten historisch-archäologischen Komplexes. Es ist bemerkenswert, dass die neuesten Ausgrabungen in Qobustan neben gepickten, geritzten und gravierten Petroglyphen zum ersten Mal auch Felsmalereien, also in Farbe ausgeführte Darstellungen, freigelegt haben.
Prähistorische Darstellungen finden sich insbesondere auf der Oberfläche riesiger Kalksteinfelsen und -klippen, von denen die Abhänge der Bergmassive übersät sind. Die Felsbilder Qobustans sind charakterisiert durch Konturen, Silhouetten und schemenhafte Linien, die in unterschiedlichen Techniken ausgeführt wurden. Bei den meisten Darstellungen wurden Steinwerkzeuge verwendet, ein kleinerer Teil ist mit Hilfe von Metallwerkzeugen ausgeführt.
Die Fundstätten von Qobustan zeichnen sich vor allem durch ihre thematische Vielseitigkeit aus, die alle Aspekte des Lebens der urzeitlichen Bevölkerung in diesen Gegenden umfasst. Viele Darstellungen weisen einen besonders ausgeprägten künstlerischen Charakter auf. Darunter sind viele fast lebensgrosse Zeichnungen von Männern, Frauen und verschiedenen wilden Tieren. Darstellungen von Menschen sind in der Regel silhouettenhaft, als Flachrelief, in Frontalansicht und im Profil ausgeführt. In den ältesten Zeichnungen tragen Männer Lendentücher, haben einen schlanken Körperbau und sind mit Pfeil und Bogen bewaffnet. Bei Darstellungen von Frauen sind vorstehende Brüste und breite Hüften zentrales Gestaltungselement, was für die prähistorische Kunst Eurasiens charakteristisch ist.
Häufige Darstellungen, die sich in Qobustan finden lassen, sind Jagdszenen, rituelle Tänze, Ernten, Opfergaben, Boote mit der Sonne am Bug, zweirädrige Karren, bewaffnete Reiter und verschiedenste Symbole. Ein Grossteil der Bilder ist mit Steinwerkzeugen ausgeführt. Ausgehend von den archäologischen Befunden lassen sich die ältesten Darstellungen auf die Altsteinzeit datieren. Ein Grossteil der Menschenbilder stammt aus dieser Zeit. Sie wurden an den Wänden von Höhlen gefunden den ältesten menschlichen Ansiedlungen in Qobustan. Für die Altsteinzeit charakteristische Darstellungen sind insbesondere in der Höhle „Ana Saga“ zu finden.
Die Darstellung einer ganzen Gruppe von Gestalten zeugt nach Meinung der Forscher von der Herausbildung eines bestimmten Stils. Ein bedeutender Teil der Felsbilder in Qobustan stammt aus der Mittel- oder frühen Jungsteinzeit und ist auf das 10.-7. Jahrtausend vor unserer Zeit datiert. In der Regel weisen diese Bilder eine proportionsgetreue Darstellungsweise auf, die charakteristisch ist für die Felskunst Eurasiens. Die meisten Bilder von Qobustan stammen jedoch aus den verschiedenen Abschnitten des Metallzeitalters: aus Kupfer-, Bronze- und Eisenzeit. Aus diesem Grund sind die ältesten Zeichnungen oftmals durch spätere Darstellungen überdeckt. Später datierte Darstellungen stammen aus der Antike und der alttürkischen Zeit oder aber aus dem Früh- und Hochmittelalter.
Zu den interessantesten und ungewöhnlichsten historischen Denkmälern Qobustans gehört Qawaldasch: ein Steintamburin, das am Fusse des Bergs Dschingirdag zu finden ist. Er besteht aus Kalkstein und ist auf drei Steinsäulen gebettet. Bei einem Aufschlag darauf ertönen metallische Klänge unterschiedlicher Höhe. Dieser „singende Stein“ gilt als das älteste Schlaginstrument, das bei rituellen Tänzen verwendet wurde.
Auf Felsen und grossen Felsblökken Qobustans sind ebenfalls zahlreiche halbkugelförmige, schalenähnliche Vertiefungen erhalten geblieben, die nach Ansicht der Forscher urzeitliche Gefässe darstellen, die für das Sammeln und Speichern von Wasser, zum Auffangen des Blutes der Opfertiere, zum Zubereiten von Nahrung mit Hilfe von erhitzten Steinen u.a. verwendet wurden.
Von unschätzbarem wissenschaftlichen Wert ist die ebenfalls in Qobustan zu findende, altlateinische sechszeilige Inschrift, die von der Anwesenheit der römischen „Legio XII Fulminata“ zu Zeiten der Herrschaft von Kaiser Domitian am Kaspischen Meer zeugt.
Im Jahr 1967 wurde Qobustan mit seiner Fläche von mehr als 4.400 Hektar zum Staatlichen Kunsthistorischen Schutzgebiet erklärt. In Qobustan findet sich auch eine grosse Anzahl von archäologischen Funden des Alltagslebens sowie von Begräbnisstätten, die helfen, das Bild der fernen Vergangenheit der Menschheit wesentlich zu vervollständigen. Heute ist Qobustan ein bedeutendes Zentrum für wissenschaftliche Forschung und kulturelle Bildung, welches die einzigartigen Relikte der urzeitlichen Kultur als einen integralen Bestandteil des Weltkulturerbes für zukünftige Generationen bewahrt.
Prof. Dr. Güdrät ISMAYILSADÄ, Historikerin
IRS
Literatur:
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