Aber die Flucht vor der bolschewistischen Gefahr begann von neuem: durch Georgien, über das Schwarze Meer nach Istanbul und weiter nach Westeuropa. Die lange Flucht führte ihn schliesslich nach Berlin 1920, wo er seine zweite Heimat fand. Im Folgenden werden Essad Beys Kindheitserinnerungen an das vorsowjetische Aserbaidschan mit einigen Kürzungen wiedergegeben. Seine Berichte sind bereits in den IRS-Erbe Ausgaben von 2014 und 1-2/2015 veröffentlicht. Die Auszüge entstammen einer Neuauflage des ersten Romans von Essad Bey, veröffentlicht im Gustav Kiepenheuer Verlag Leipzig (1997, Seiten 231-257).
Schiffbruch
[…]
Die Rettung kam, wie immer, unerwartet und im letzten Augenblick, fast wie in einem Kolportageroman schlimmster Sorte. Am Nachmittag des fünften Tages erblickten wir am Horizont einen Dampfer, der auf unsere Rettungssignale sofort den Kurs änderte und auf uns zukam. Die Flagge auf dem Dampfer war uns unbekannt. Wir fürchteten abermals in die Hände irgendeiner phantastischen Regierung zu geraten. Der einzige Schwede, der mit uns fuhr, wusste aber in Flaggen Bescheid. Er betrachtete sie eine welle, zog dann den Hut ab, schlug das Kreuz und sagte erleichtert: „Es ist die Flagge des deutschen reiches.“ In einer stunde waren wir schon an Bord des Bakuer Dampfers, der unter deutscher Flagge im [Kaspischen] Meer herumfuhr, um die Flüchtlinge, die wie wir in Segelbooten die heimatlichen Ufer aufsuchten, zu retten.
Auf dem Dampfer befand sich ein deutscher Offizier, der türkisch sprach und uns im Namen der deutschen Besatzung begrüsste. Als ihn der Kapitän des Dampfers, der uns alle genau kannte, mitteilte, dass sich unter den reisenden einheimische Politiker, Ölbesitzer und Fürsten befänden, salutierte uns der deutsche nochmals und sagte, dass er uns sämtliche Offizierskajüten des Dampfers zur Verfügung stelle. In der tat liess er sofort alle Kabinen räumen, auch seine eigene, und schlief selbst die ganze Nacht auf dem Vorderdeck. Ein Engländer hätte so etwas nie getan. Der Kapitän erstattete dem unter uns weilenden Besitzer des Dampfers den üblichen Rapport, die Matrosen nannten jeden von uns mit dem ihm zukommenden Titel. Unsere letzte sorge über die Verhältnisse in Baku war wie weggeblasen.
Wir waren wieder die Herren.
Vom Kapitän erfuhren wir auch die Einzelheiten über die Lage in Aserbaidschan. Diese Einzelheiten klangen erfreulich, die Öltürme standen unbeschädigt, die Arbeiter waren den Herren ergeben, alle Feinde schienen vernichtet. Das ganze Land lag fest in den Händen der Regierung, der Ölbesitzer. Nicht einmal den Frauen, die nach der Rettung wieder blutdürstig wurden, blieb etwas zu wünschen übrig. Nie in meinem Leben, weder früher oder später, habe ich mich so gefreut, wie an jenem tag auf dem Dampfer unweit der Küste Bakus.
Am nächsten Tag liefen wir in den Hafen ein. Eine Ehrenwache empfing uns am Ufer, wir sahen die alte Ölstadt wieder, die Paläste, die Mauern. Wir erkannten Leute, die dem Ufer zueilten, um uns die Hände zu küssen, hörten die Hymne, die die Ehrenwache spielte, und spürten den kaum merkbaren, süssen, heissgeliebten Ölduft, der uns entgegenströmte. Am Ufer neben der Ehrenwache stand der neue Premierminister Fathali-Khan von Choja […]. Neben ihm hielt ein Soldat die aserbaidschanische Flagge. Ich weiss nicht, wie es geschah, ich stand neben meinem Vater, der mit dem Minister sprach, blickte auf das frische, von Ministerwürde strahlende Gesicht, sah den Halbmond neben ihm stehen, und plötzlich, mir selbst und allen anderen völlig unerwartet, umarmte ich den Mann und küsste seine dicken, lächelnden Lippen. „Nicht so stürmisch“, sagte der prosaische Minister, „an schönen Mädchen wird es dir bald nicht mehr fehlen.“
Es ist herrlich, nach vielen Monaten gefahrvoller reisen in die Heimat zurückzukehren. Als wir die landungsstelle verliessen und den Kai betraten, zog gerade eine Abteilung deutscher Soldaten. Sie sangen ein Lied, das ich noch nie gehört hatte und das mir damals sehr gefiel, es lautete: „Die Vöglein im Walde, die singen so wunder, wunderschön, in der Heimat, da gibt es ein wiedersehen.“ Ich konnte genug Deutsch, um die worte zu verstehen.
Zu hause wusste man noch nichts von unserer Ankunft. Vor der Tür hielten zwei türkische Soldaten wache. Im haus wohnten ein deutscher und ein türkischer Offizier. Als diese erfuhren, die rechtmässigen Besitzer wären angekommen, eilten sie uns entgegen und versicherten, dass sie sofort ausziehen werden.
„Bleiben sie doch bei uns“, sagte mein Vater, „im Haus ist genug Raum.“
„Wir haben nicht das recht, sie zu belästigen“, antwortete der türkische Offizier, „aber seien sie unbesorgt, in der Nachbarschaft wohnt eine armenische Familie, sie hat eine ganz nette kleine Wohnung, wir werden gleich dahin umziehen.“
So zogen wir in die Heimat ein.
Die türkische Besatzung
Die alte Ölstadt hatte sich nur wenig verändert. Das einzige, was ich auf dem Wege vom Ufer nach hause erblickte, waren an die achtzehn Galgen, die an jeder Strassenecke errichtet waren. An ihnen hingen Leichen, und neben jeder Leiche stand ein Soldat der Besatzungsarmee. Ein Polizeibeamter, der uns begegnete, erklärte, zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit seien in der Stadt gegen zweihundert Galgen errichtet worden. Wir waren durch diese Erklärung durchaus befriedigt. Mein Vater lobte die Energie der Besatzungsarmee.
Nach und nach erfuhr ich Einzelheiten über die Eroberung der Stadt sowie über den Rückzug der Engländer und den Einzug der Regierungstruppen.
Nach dem Sturz der Kommunisten kam in Baku eine sozialdemokratische Arbeiterdiktatur an die Macht, die den Kampf gegen die anrückenden deutsch-türkisch-aserbaidschanischen Truppen weiterführte. Da die Streitkräfte der Arbeiterdiktatur nicht zuverlässig genug waren, beschloss man, die Engländer aus Persien zur Verteidigung der Ölstadt einzuladen. Diese liessen sich das nicht zweimal sagen. Sie erschienen in strammen Kolonnen mit der ehrlichsten Überzeugung, dass ihre Anwesenheit allein genügen werde, um den Feind von weiteren offensiven zurückzuhalten. Dies ereignete sich im August 1918, als kein Engländer mehr am sieg zweifelte. Es kam aber anders. Die [gegnerischen] Truppen, die unter Führung von Nuri-Pascha standen, belagerten Baku, schnitten die Wasserzufuhr ab und stellten den Belagerten anheim, das Meereswasser, das in den Ölraffinerien destilliert wurde, zu trinken. Das Wasser roch nach Petroleum, wurde aber von den Engländern tapfer hinuntergeschluckt. Gleichzeitig fanden in der Stadt täglich grosse Arbeiterversammlungen statt, in denen alle anwesenden feierlich schworen, ihre Diktatur bis zum letzten Augenblick zu verteidigen. Diese Versammlungen wurden regelmässig von den Schrapnells der Belagerungstruppen auseinandergejagt, sie schossen unfehlbar und zeigten deutlich, dass die Deutschen und Türken von den Vorgängen in der belagerten Stadt aufs beste unterrichtet waren. In der tat wurde auch in jeder Nacht von den Dächern der entsprechend hoch genug gebauten mohammedanischen Häuser den türken Nachricht gegeben und jede Einzelheit über die Lage der Truppen und dergleichen mitgeteilt. Auch in unserem haus geschah das.
Die Frauen, die bei uns wohnten, taten ihr Möglichstes, um unsere baldige Rückkehr zu beschleunigen. Fräulein Grete aus Königsberg befand sich noch unter ihnen und verbrachte die Nächte, wie man uns erzählte, auf dem flachen Dach unseres Hauses mit ihrer Signallaterne. Die Truppen der Arbeiterdiktatur bestanden hauptsächlich aus Armeniern, die wie die Leser wissen, Grund genug hatten, sich vor dem Einzug der aserbaidschanischen Truppen zu fürchten, und aus den englischen Streitkräften, die sich jedoch für viel zu fein hielten, um an der Front zu kämpfen und lediglich für die ruhe innerhalb der Stadt sorgten.
Eines Tages forderte der türkische Befehlshaber den englischen General brieflich auf, Baku seinem Schicksal zu überlassen und sich nach Persien zurückzuziehen. Andernfalls, so hiess es in dem Brief, würden die türkischen Kanonen den englischen Stab, der sich mitten in der Stadt befand, beschiessen.
Die Engländer wussten, dass dem Feind nichts verborgen blieb, und beschlossen zwei Stunden vor der von den Türken angegebenen Frist mit ihrem Stab in ein anderes Gebäude umzuziehen.
Der tag graute, die Engländer zogen in aller Stille um, bestellten in den neuen Räumen Frühstück und spotteten über die türkischen Drohungen. Als aber die Uhr die von den Türken angegebene Zeit schlug, ertönte der Kanonenschuss, der zur Bestürzung der Engländer nicht ihr altes, sondern ihr neues, streng geheim gehaltenes Quartier traf. Den Türken wurde eben alles bekannt.
Die türkischen Kleinkalibergeschütze bohrten ein Loch nach dem anderen in die Wände des Stabes, und der General mit den Herren Offizieren, die eben noch ihr Frühstück erwarteten, wussten nicht, wie sie lebend aus dieser Hölle herauskommen sollten. Plötzlich hörte die Kanonade auf, das Telefon läutete und eine unbekannte Stimme fragte höflich den englischen General, ob er nun endlich die Stadt verlassen wollte, sonst würde die Kanonade sogleich fortgesetzt. Jetzt willigte der Engländer ein. Blitzschnell wurde gepackt, die Soldaten in den Hafen versammelt, die Dampfer beschlagnahmt. Am Abend befand sich kein einziger englischer Soldat mehr in der Stadt. Wie ich gehört habe, wurde dieser brave General später in England wegen Gefährdung des englischen Prestiges vor die Stadt Baku blieb nunmehr auf die armenischen Truppen angewiesen, die ihrerseits in etliche Parteien zersplittert waren, und den einzigen Wunsch hatten, möglichst unbemerkt aus der belagerten Stadt zu entfliehen. Trotzdem war die Aufgabe der Belagerer nicht einfach. Baku ist eine erstklassige Festung. Die kleinen Feldkanonen konnten nur wenig ausrichten. Ausserdem durfte man von ihnen nur sehr vorsichtig gebrauch machen, um die Ölfelder zu verschonen. Beide Parteien wetteiferten in dieser Vorsicht. Obwohl die Front dicht an den Öltürmen lag und sie zum teil in sich schloss, wurde kein einziger Turm beschädigt.
Der Wirrwarr unter den armenischen Truppen, den Resten jener Truppen, die seinerzeit unter dem roten Kommando das grosse Blutbad feierten und dem dreissigtausend Mohammedaner massakrierten, wurde von tag zu tag grösser. Jemand hatte die Nachricht verbreitet, dass der Plan der Eroberung Bakus, von Hindenburg persönlich stammend, im versiegelten Paket eben in dem Türkenlager eingetroffen sei. Es fanden sich sogar Leute, die schworen, dass sie das versiegelte Paket mit eigenen Augen gesehen hätten. Der Wirrwarr wurde zur Panik. Die Mohammedaner unterstützten eifrig die Hindenburg-Legende und bald war jeder armenische Soldat überzeugt, dass eine weitere Verteidigung für ihn blossen Zeitverlust bedeute. Inzwischen bereiteten die türken den Generalangriff auf die Stadt vor, dessen Plan zwar nicht von Hindenburg, wohl aber von dem deutschen Oberbefehlshaber in Georgien, Kress von Kressenstein und dem türkischen General Nuri-Pascha stammte. Der angriff wurde nach allen Regeln der Kriegskunst durch ein Trommelfeuer vorbereitet. Als aber die Türken stürmten und die schweigend-drohende armenische Front erreichten, zeigte sich diese von allen Kriegern verlassen. Der weg zu der Stadt lag offen. Nur einige total betrunkene Armenier fanden sich in dem Schützengraben vor. Aber diese konnten in ihrem Zustand nichts Stichhaltiges über das verschwinden der Verteidiger aussagen. Zuerst vermutete man irgendeine Kriegslist, später, als man behutsam weiter vorstiess, kam man zu der erfreulichen Feststellung, dass die Kanonade genügt hatte, um die Verteidiger, die an dem gleichen Tag einen armenischen heiligen feierten, aus ihren Befestigungen zu treiben. Einige in die Stadt geschickte Patrouillen meldeten, dass diese wie ausgestorben sei. Darauf erklärte Nuri-Pascha Baku für erobert und gratulierte der aserbaidschanischen Regierung, die sich in seinem Lager aufhielt.
[…]
Nach der Wiederherstellung der Ordnung begann sich auch die neue Regierung wieder für das wohl der Einwohner zu interessieren, und zwar suchte sie zuerst die enormen Preise der Nahrungsmittel zu senken. Das geschah auf folgende weise: Man versammelte alle Nahrungsmittelhändler und las ihnen die gesetzlichen Höchstpreise vor. Man verkündete, dass jeder, der mehr nähme, gehängt werde. Dann setzte man noch etwas wichtiges hinzu, was wie ich später hörte, die deutsche Zwangswirtschaft Mutatis Mutandis übersehen hat, bei ihren Massnahmen zu verwenden. „Falls die Nahrungsmittel überhaupt von den Märkten verschwinden sollten, was die übliche Folge solcher Verordnungen ist, wird jeder fünfte Nahrungsmittelhändler automatisch zum Galgen verurteilt. „Dieser Zusatz wirkte, wie sich denken lässt, ganz ausserordentlich. Fiebernd sorgten die Händler für die Herbeischaffung von Nahrungsmitteln und verkauften sogar einige Male unter ihrem Einkaufspreis. Man hatte ihnen das Gemeinschaftsgefühl spielend leicht beigebracht. Die halb verhungerte Stadt, die während der Belagerung nur Kamelfleisch und Nüsse sah, atmete auf. Die Galgen drohten aber noch monatelang auf der Strasse. Nach der Meinung der Besatzung durften sie nicht leer bleiben, da das eventuell als schwäche aufgefasst werden und der Autorität der Regierung schaden zufügen konnte.
[…]
Zu hause blieb alles in bester Ordnung. Das deutsche Mädchen reiste, von unseren besten wünschen begleitet, nach Deutschland. […] das grosse haus lebte wieder seinen althergebrachten Sitten nach. Die Frauen, Kinder und Diener, die bei uns wohnten, sahen zwar etwas ausgehungert aus, doch waren sie gesund geblieben. Mein Vater behauptete auch, die Zahl der Kinder habe zugenommen.
Ich glaubte es ihm, aber ich konnte selbst nie feststellen, wieviel Menschen eigentlich bei uns im hause wohnten. Als sich die Nachricht von unserer Ankunft verbreitete, erschienen sofort unsere Kotschis, die vieles zu melden hatten und sich neuerlich bei uns in Recht und Pflicht begaben.
Dann begannen die offiziellen Besuche, einer der ersten, der erschien, war der türkische Pascha, der Eroberer von Baku. Ihn umgab ein Kranz deutscher Offiziere, die sich in Glückwünschen und Liebenswürdigkeiten überboten. Ich spielte den Dolmetscher zwischen ihnen und meinem Vater. Der türkische General erzählte uns, dass er auch weiterhin täglich Dampfer auf den See hinausschicke, um den Flüchtlingen zu helfen, die vielleicht noch heute, wie wir, im Meer herumirrten.
Nach den offiziellen Besuchen begannen die Bälle, die jeder jedem zu ehren gab. Nach langen Monaten der Flucht und der Strapazen suchte man sich nun schadlos zu halten. Tonangebend waren überall die deutschen Offiziere. Die ganze Stadt erstarrte vor staunen, als man sah, dass sie für alles, was sie in Geschäften nahmen oder verzehrten, mit richtigem Gelde wirklich bezahlten. Man versuchte sie davon abzuhalten. Nach der allgemeinen Auffassung schickte es sich nicht für einen Eroberer für etwas zu zahlen, was ihm gehört. Sie liessen sich aber nicht überzeugen. Das schadete ihrer Autorität im Volke sogar ein wenig. Man musste den deutschen die üblichen Geschenke direkt aufzwingen. Jeder Offizier sah verlegen drein, wenn man ihm einen Silberkasten oder einen goldenen Dolch überreichte. Noch nie hat man im Orient so merkwürdige Eroberer gesehen.
Viel zahlreicher als die deutschen waren die türkischen Offiziere, die uns natürlich viel verständlicher waren. Manche von ihnen blieben für immer in Baku und heirateten die Töchter der Ölbesitzer. Das gab dann jedesmal Anlass zu unendlichen Festlichkeiten. Beim verlassen jedes dieser Feste erblickte man immer wieder an jeder Strassenecke die Galgen mit den Leichen. Das erinnerte an die bestandenen gefahren, an die blutigen Kämpfe und an die rote Herrschaft, die nun vorbei war.
Schon eine Woche nach unserer Ankunft waren unsere Ölfelder wieder in Ordnung. Nie vorher haben die Arbeiter soviel geleistet wie damals. Das schwarze Gold strömte wieder aus der tiefe, wie in den alten Zeiten, als es noch heilig war, als es, wie die ewigen Flammen, dem friedlichen Anguro Mazda, dem guten Gott, geweiht war.
Die Engländer
Nur wenige Monate dauerte die deutsch-türkische Besetzung. Nach dem Zusammenbruch der deutschen Westfront und dem türkisch-englischen Waffenstillstandsabkommen räumten die verbündeten Aserbaidschan. Die aserbaidschanische Front war östlicher Kriegsschauplatz. Dort bleiben die Deutschen und Türken bis zuletzt Sieger, noch im September 1918 flohen vor ihnen die englischen Truppen. Man beabsichtigte bereits einen Feldzug nach Turkestan zu unternehmen, als die Nachricht vom Waffenstillstand eintraf. Für die Truppen, die eben noch einen glänzenden Sieg gefeiert hatten, war diese Nachricht bestürzend, für uns, die aserbaidschanischen Politiker, konnte sie unter umständen den Untergang bedeuten.
Schliesslich waren es doch dieselben aserbaidschanischen Politiker, die von den Deutschen und Türken unterstützt, die Engländer aus Baku vertrieben, und nun den besiegten englischen General, der sich nach Persien zurückgezogen hatte, wieder empfangen sollten. Mit Ehrenwache und Abschiedsgeleit wurden die Befreier des Öllandes gefeiert. Schon nach zwei Stunden zeigte sich am Horizont der erste Transportdampfer der englischen Besatzung. Dieselbe Ehrenwache, die den letzten deutschen Offizier begleitete, wurde nun am Kai aufgestellt, um die „neuen Herren“ zu empfangen. Natürlich war auch das ganze Ministerialkabinett am Ufer versammelt. Die Engländer trafen ein, der General, der überraschenderweise nicht der kürzlich vertriebene, sondern ein anderer war, betrat das Ufer, schaute sich eine weile die aserbaidschanische Flagge an und fragte, ohne jemanden zu grüssen: „Was ist das für ein Tuch?“
„Die aserbaidschanische Nationalflagge, Exzellenz“, antwortete der Aussenminister.
„Merkwürdig“, brummte der General, dann stand er eine weilte Stumm da und befahl plötzlich, die englische Königshymne zu singen. Dieses wurde erfüllt, und der General zog befriedigt in das ihm angewiesene Palais. So begann die englische Besatzung. Sie dauerte einige Monate, in denen die Engländer so taten, als weilten sie nur aus grosser Gefälligkeit in dem reichsten Ölland Asiens. Wenn ihnen etwas missfiel, verboten sie es der Regierung mit der Begründung, dass es gegen die Grundsätze der Zivilisation verstosse. Ein solches verbot, das die Engländer nie anders als mündlich äusserten, endete stets mit dem folgenden Satz: „Wir bitten, unseren ratschlag zu befolgen, da wir widrigenfalls Ihr Land seinem eigenen Schicksal überlassen und uns nach England zurückziehen müssten.“ Das klang liebenswürdig, aber nur wenig überzeugend. Die Engländer gaben sich nicht die geringste Mühe, sich einigermassen den Sitten des Landes anzupassen. Sie lebten wie in England, das hatte öfter unangenehme Folgen.
Zuerst bekamen die englischen Offiziere – ebenso wie früher die deutschen und türkischen Offiziere – freien Einlass in den berühmten Klub der Ölherren. Eines Tages kamen dorthin vier englische Offiziere, bestellten ein Abendessen, und nachdem sie gespeist hatten, legten sie ihre unteren Extremitäten auf den Tisch. In Aserbaidschan ist diese Sitte unbekannt, dagegen gibt es dort ein Sprichwort: „Setzt ein Schwein zum Tisch, es legt die Beine auf den Tisch.“ Das diensttuende Klubmitglied, Fürst Ali, kam an den Tisch und bat die Engländer, die Beine vom tisch zu nehmen. Die Offiziere hielten ihn keiner Antwort würdig, plauderten weiter, als ob nichts geschehen wäre. Der Fürst wiederholte seine Bitte, worauf einer der Offiziere die Pfeife aus dem Mund nahm, auf den kostbaren Perserteppich spuckte und etwas sagte, das wie „scher dich zum Teufel“ klang. Der Fürst winkte nun einigen Kellnern, die die britischen Kulturträger so sanft, wie es nur ging, aus dem Klub herausschmissen. Einige Ölbesitzer waren ihnen dabei behilflich, und ein Engländer verlor seinen Säbel.
Am nächsten tag stand in allen Zeitungen geschrieben: „Englische Offiziere von Ölbesitzern verprügelt.“ Der englische General tobte, erschien bei dem Präsidenten des Ölrates, drohte den Klub zu schliessen und die beteiligten Ölherren zu erschiessen. Merkwürdigerweise liess er beide Absichten fallen, als man ihm erklärte, dass der Ölklub eine geschlossene Gesellschaft sei und jeden nicht-Ölbesitzer und missliebigen gast ausschliessen könne.
Dieses ist auch in England Sitte, sagte er, beschlagnahmte aber die Zeitung, die den Vorfall schilderte. Die beteiligten Offiziere wurden nach England versetzt.
Die Monate, die die Engländer in Aserbaidschan verbrachten, nützten sie dazu aus, um mit den christlichen Familien, also Russen, Armeniern, Georgiern Bekanntschaften zu schliessen. Unter den Christen waren die Engländer als Retter vom türkenjoch sehr beliebt. So kam es zu zahlreichen Ehen zwischen den christlichen Mädchen und englischen Offizieren. Zu jeder Hochzeit erschienen sämtliche Offiziere der Besatzung, feierten bis zum Morgengrauen und gratulierten dem jungen Ehepaar.
Endlich kam der tag, wo laut Beschluss des englischen Parlaments die Engländer ihre sorge um die Zivilisierung Aserbaidschans aufgeben und nach dem Mutterlande zurückkehren sollten. Für das Öffizierskorps wurde ein Salonzug reserviert, dessen zwei letzten Wagen für die jungen Offiziersfrauen bestimmt waren. Die Männer sollten befehlsgemäss zusammen mit den ledigen Offizieren in den vorderen Wagen reisen. Am tag der abreise versammelte sich auf dem Bahnsteig die ganze Verwandtschaft der Frauen. Von tränen und abschiedswünschen begleitet, bestiegen die Frauen die beiden letzten Salonwagen und ihre Männer die ersten. Der General hielt eine abschiedsrede. Ein Pfiff ertönte, der Zug setzte sich in Bewegung. und da kam die grosse Überraschung. Der ganze Zug, alle wagen, rollten ab nach Europa, nur nicht die beiden letzten. Diese blieben vielmehr auf dem gleis stehen, weil sie laut einem Geheimbefehl der Herren Offiziere an den Zug nicht angehängt gewesen waren. Die armen Frauen blieben, wo sie waren, wurden von allen ausgelacht und wussten nicht, was sie vor Scham und Zorn anfangen sollten. Nur ein einziger der Offiziere kehrte später zurück, um seine Frau abzuholen. Die übrigen liessen nichts mehr von sich hören. Für sie war das kleine Kolonialabenteuer mit dem verlassen der Stadt beendet. Dass nun diese ihre Frauen für ihr ganzes leben als entehrt galten, war ihnen höchst gleichgültig. […]
So endete die englische Besatzung, und Aserbaidschan wurde wieder zum ersten Male nach vielen Jahren absolut selbständig. Russland stand mitten im Bürgerkrieg und war ungefährlich. Mit sämtlichen Nachbarstaaten, mit Georgien, Armenien, Dagestan und Persien wurden freundschaftliche Verträge geschlossen. Die Ölregierung, vom Parlament unterstützt, sorgte für Ruhe und Ordnung auf den Feldern, in den Wüsten und bei den Nomadensippen.
Für die Ölherren, die jetzt an die Macht kamen, war diese Zeit die beste ihres Lebens, auch für mich war sie es. Das friedliche Leben des alten Ostens sollte von neuem beginnen, ungestört von den Parlamentsreden, Regierungsbeschlüssen und anderen europäischen Erfindungen. Das Parlament wurde von unseren Kotschis bewacht, die jeden abgeordneten beim eintreten durchsuchten und ihm – um unliebsame Vorfälle zu vermeiden – für die Dauer der Sitzung die Waffen abnahmen.
Der weise General Taghi-sade – der seinerzeit mit dem Fürsten Bebutoff in Konflikt geraten war – hielt im Parlament eine lange Programmrede, deren Mittelpunkt der mit jubelndem Beifall aufgenommene Satz war. Unser armes Volk braucht drei Dinge: Peitsche, Zuchthaus und Lehrer.
Nach diesen Grundsätzen sollte nun zur Genugtuung der herrschenden Schicht regiert werden. Es wurde auch in der tat so regiert, bis der Sowjetstern von neuem im Norden auftauchte, und den Ölherren, Fürsten, Ministern und Parlamentariern in den Kerkern der Tscheka die blutige Peitsche zu kosten gab. Bis dahin gab es im Land keine aufregenden ereignisse mehr. Irgendwo in dunklen Gassen knallten noch dann und wann Revolverschüsse. Hin und wieder verschwanden auch ein Paar verdächtige Personen. Und von Zeit zu Zeit hielten die Ölherren, die Minister und Parlamentarier feierliche Empfänge ab, zu denen das diplomatische Korps vollzählig erschien und der päpstliche Nuntius der Republik viel Glück wünschte. […]