Die Stadt Gändschä wurde hierbei zwar vollständig zerstört, jedoch entstand unweit mit dem Bergsee Göygöl ein neues Naturwunder. Zehntausende kamen bei der Katastrophe ums Leben, Gändschä wurde jedoch einige Kilometer weiter westlich wieder aufgebaut und ist heute die zweitgrösste Stadt Aserbaidschans. Es scheint fast, als habe die Natur all diese Verluste wieder gutmachen wollen, als sie Aserbaidschan im Jahre 1141 ein ungewöhnliches Kind schenkte. Ein überragender Dichter und Philosoph, bewandert in Mathematik, Astronomie, Medizin, Rechtsprechung, Geschichte, Philosophie, Musik und anderen Künsten sollte mit seinen Dichtungen die Seelen und Gedanken der Menschen für Jahrhunderte bewegen. Da Nizami nicht nur als Dichter, sondern auch als Wissenschaftler tätig war, der anderen seiner Zeit weit voraus schien, wurde er mit häkim angeredet, einem Ehrentitel für einen „Weisen Mann“. Obwohl zu jener Zeit eine Vielzahl wissenschaftlicher Genies existierte, trugen ausser Nizami nur zwei weitere Personen diesen Titel: Abu Ali ibn Sina (Avicenna) und Omar Chayyam.
Mit Recht ist die wiederaufgebaute Heimatstadt Gändschä stolz auf ihren Sohn, der als „Nizami Gändschävi“ Weltruhm erlangte. Denn Nizami Gändschävi gilt schon lange nicht mehr nur als ein Kind Aserbaidschans. Sein literarisches Erbe ist Teil des grossen Schatzes der Weltkultur geworden, er selbst damit ein Kind der gesamten Menschheit. Das Jahr 1991 erklärte die UNESCO anlässlich des 850. Geburtstages des grossen Dichters zum „Nizami-Jahr“.
Bis heute hat Nizamis Dichtung nichts an Lebendigkeit eingebüsst. Er ist mit ihr unsterblich geworden. Der grosse deutsche Dichter Johann Wolfgang von Goethe gab einmal eine Selbsteinschätzung ab, die von grosser Bescheidenheit zeugte. Er verwies auf sieben grosse Dichter, die durch die klassische persischsprachige Tradition ausgewählt und hervorgehoben worden waren – Firdausi, Anvari, Nizami, Sa’di, Rumi, Hafiz und Dschami – und kam zu dem Schluss: „Die Perser hatten in fünf Jahrhunderten nur sieben Dichter, die sie gelten liessen, und unter den verworfenen waren mehrere, die besser waren als ich!“
Dabei hat Nizami sein ganzes Leben in seiner Heimatstadt verbracht, wo er den Geburtsnamen Ilyas (Nezām ad-Dīn Abū Muhammad Elyās ibn Yusūf ibn Zakī ibn Mu‘ayyid) erhalten hatte. Nach dem Bezugsnamen Nizamäddin („aus Handwerkerkreisen der Sticker stammend“) legte er sich später den Namen „Nizami“ als Pseudonym zu.
Trotz einer anhaltenden Kontroversen zu Nizamis tatsächlichem Todesjahr, wird dieses heute fast einstimmig auf den 12. März 1209 datiert, so wie es auch auf seinem Grabstein bis 1947 zu lesen war (4. Ramadan 605 Hidschra).
Zu Lebzeiten Nizamis dominierten im Nahen und Mittleren Osten zwei Sprachen als Verwaltungs-, Wissenschafts- und Literatursprachen. Alle religiösen und wissenschaftlichen Arbeiten wurden in Arabisch abgefasst, während Dichter verschiedenster Herkunft, von Zentralasien bis zum Kaukasus, von Indien bis nach Persien, für ihre Werke traditionell Persisch bevorzugten. Nizami besass eine hervorragende Bildung, was sich in seinem Wissen, seinem Umgang mit neuen Informationen und seinem starken Interesse für die verschiedensten Bereiche der Wissenschaft wider-spiegelte. Die frühesten seiner Gedichte, die der heutigen Forschung bekannt sind, belegen, dass er die dichterischen Gestaltungsmittel seiner Zeit auf einem überdurchschnittlich hohen Niveau beherrschte. Damals waren umfassende Kenntnisse der persischen und der arabischen Sprache die Grundvoraussetzung, um dieses universelle theoretische Grundlagenwissen überhaupt erwerben zu können.
Die beiden grossen, bis heute erhaltenen Werke Nizamis, „Diwan“ und „Chämsä“, sind in Persisch abgefasst. Obwohl die Sprache des Dichters fl üssig und korrekt ist, unterscheidet sie sich laut dem bekannten iranischen Wissenschaftler Sa’id Firdausi jedoch grundlegend von dem Persisch, das ein Muttersprachler wie beispielsweise der Dichter Firdausi verwendete. Die iranische Schriftstellerin Azar Nafi si stellte in Nizamis Gedichten sogar sprachliche Parallelen zu verschiedenen Turksprachen fest. Nizami selbst hielt ausserdem fest, dass er zuweilen ein persisches Wörterbuch heranzog, um die Bedeutung bestimmter Wörter zu klären. So gebe es
„[…] laut Wörterbuch zwei Arten von manjanaq [Katapult]
– eines schiesst mit Seide und das andere – mit Steinen.“
Der grosse Meister des persischen romantischen Epos nannte sich selbst „Taucher im Seelenmeer“ und wurde mit seinem „Chämsä“ („Fünfer“ oder „Die Fünf Schätze“), das aus fünf mäsnävis (Erzählungen in Gedichtform) besteht, unsterblich. Sein aus fünf voneinander unabhängigen Dichtungen bestehendes Sammelwerk, das zwischen 1174 und 1209 entstanden ist, besteht aus den Epen „Mächzän ül-Äsrar“ – „Der Schatz der Geheimnisse“ (1178), „Chosrov und Schirin“ (1180), „Leyili und Mädschnun“ (1189), „Häft Peykar“ – „Die Sieben Schönen“ (1197) und „Iskändärnamä“, das er im Jahr 1201 vollendete und welches aus zwei Teilen besteht, „Iqbalnamä“ und „Schäräfnamä“.
In Indien schrieb Amir Chosrov Dehlavi seine ersten fünf Gedichte als Antwort an Nizami und folgte damit dem Dichter in seiner Tradition nach. Damit legte er den Grundstein für die literarische Schule Nizamis. Amir Chosrov defi nierte mit seinem Chämsä die „Formel“, wie eine Antwort auf Nizamis Werk auszusehen hatte: Handlung, Charaktere und Grundprinzipien der Gedichte Nizamis wurden beibehalten – die antwortende Person sollte ihre Fähigkeiten nur durch ihre Art des Ausdrucks, ihre literarischen Fertigkeiten und eine ausgefeilte Wortwahl unter Beweis stellen.
Obwohl Nizami zu seinen Lebzeiten die Türen aller Paläste off en standen, hielt er sich von ihnen fern. Er wollte lieber ein ruhiges und unabhängiges Leben führen.
Die Zeit hat die prächtigsten Paläste der Schahs zerstört, doch Nizamis „Palast der Worte“ wird trotz seines Alters immer schöner und strahlender. Einer der Hauptgründe mag wohl darin liegen, dass Nizami seine Gedichte im Namen der Menschheit, des gegenseitigen Respektes voreinander und im Namen der Liebe schrieb. Diese Auffassung – das Prinzip des Humanismus – ist das Herzstück von Nizamis Kunst. Diese hehre Vorstellung zieht sich durch alle seine Werke, vom ersten bis zum letzten seiner Reime und vom ersten bis zum letzten seiner Gedichte.
Obwohl er seine Gedichte vor mehr als 800 Jahren verfasst hat, unterscheidet sich die von ihm verwendete Sprache, abgesehen von einigen heute veralteten Worten, kaum vom modernen Persisch. Und doch ist Nizami schwer zu verstehen, weil er mit höchster Präzision an jedem Vers und jedem Reimpaar arbeitete und ein und dasselbe Wort in mehreren Bedeutungen verwendete. Man kann Nizamis Gedichte nicht einfach lesen und dann wieder vergessen. Man muss jedes Wort und jede Wortfolge in jedem Vers und in jedem Reimpaar wieder und wieder lesen und versuchen, andere Bedeutungen zu finden, und dann beginnen, in Übereinstimmung mit dieser neuen Bedeutung den Grundgedanken des Abschnittes aufs Neue zu begreifen. Selbst die grössten Nizami-Experten geben zu, dass es ihnen nicht gelungen ist, alle Bedeutungen der Verse des Dichters aufzudecken. Es gibt unendlich viele Sinnzusammenhänge in Nizamis Worten.
Nizamis Werke stellen eine Art Enzyklopädie des 12. Jahrhunderts dar. Sein „Chämsä“ kann als eine sehr verlässliche Quelle angesehen werden, um das Denken jener Epoche, ihr öffentliches und politisches Leben, ihre Architektur, Kunst und Wirtschaft zu ergründen.
Nizami war zwar ein Bewohner des blühenden wirtschaftlichen und kulturellen Zentrums Gändschä, der seine Heimat nur einmal verliess, aber er war vor allem ein überragender Dichter, der sich nicht durch irgendwelche Grenzen beeindrucken liess. Er las nicht nur in Turksprachen, in Persisch und Arabisch, wie er selbst sagte, er war sich auch verschiedener religiöser Überlieferungen bewusst. Die Wahl der Hauptcharaktere seiner Werke verdeutlicht dies: Egal ob Perser, Araber oder Griechen, Nizamis Absicht war es nie, die Herkunft seiner Charaktere zu beleuchten. Sein Ziel war stets, eine anspruchsvolle literarische Lösung für die Umsetzung seiner Ideen zu finden. Und so ist es kein Zufall, dass sowohl die Haupt- als auch die Nebencharaktere in Nizamis Gedichten Vertreter dutzender unterschiedlicher Völker sind. Mit seinen Werken schuf Nizami nicht nur ein literarisches Modell, an welchem sich Menschen noch in Jahrhunderten orientieren werden, sondern er begründete auch eine neuartige Form des Denkens und der Spiritualität, die uns noch heute einen beispielhaft toleranten Umgang mit anderen Völkern zeigt. In seiner Zeit gehörte er zu denjenigen, die mit all ihrem Schaff en die „Orientalische Renaissance“ einleiteten und vorantrieben.
In seiner monumentalen philosophischen Erzählung, dem Teil des „Iskändärnamä“ mit dem Titel „Iqbalnamä“, beschreibt Nizami eine Stadt und eine Gesellschaft, die er in seinen Träumen sah und die er Wirklichkeit werden lassen wollte. In dieser idealen Stadt, die Nizami beschreibt, ist jeder gleich und die Achtung der Menschrechte ist selbstverständlich. Geld gibt es nicht mehr, es wird auch keine Polizei benötigt, da es in einer bewussten Gesellschaft keine Gesetzesverstösse mehr gibt.
„Wir sind friedliche und gläubige Leute
Wir haben uns nicht einmal eine
Haaresbreite von der Wahrheit entfernt
Wir treiben keine Geschäfte im Verborgenen
Wir tun nichts als ehrliche Dinge
Wenn ein Schwacher uns um Hilfe
fragt, strecken wir unsere Hand aus
Wenn wir in Nöten sind, warten wir geduldig
Wir besitzen nicht mehr als irgendjemand anderes
Wir haben all unseren Besitz gerecht aufgeteilt
Wir betrachten einander als Gleichgestellte
Wenn einer traurig ist, freuen wir uns nicht
Wir fürchten keine Diebe
Wir haben keine Aufseher in den
Städten und keine Wachen in den Strassen
Wir haben kein Schloss an unserer Haustür
Niemand bewacht unser Vieh
Wir zählen nicht Gold und Silber
Denn niemand braucht es
Wir essen nicht so viel wie Ochsen oder Affen
Doch wir weisen auch nicht das Essen zurück, das wir mögen
Niemand von uns stirbt jung
Nur alte Menschen, die ein langes Leben gelebt haben, sterben“
Noch ist der Tag fern, an dem die Welt und das Leben dergestalt ist, wie Nizami es sich wünschte. Doch die Menschheit sehnt sich nach einem solch glücklichen Leben seit acht Jahrhunderten, seit 1000 Jahren, ja seit Jahrtausenden.
Nizami hat die nachfolgenden Generationen nicht nur ermahnt, auf ein solches Leben und eine solche Gesellschaft hinzuarbeiten, er hat uns auch Wege aufgezeigt, wie wir dieses Ziel erreichen können. Aus diesem Grund brauchen wir das alles erhellende Licht der Worte Nizamis heute und auch in Zukunft.
Nizami Gändschävi, der die Wünsche der gesamten Menschheit in sich trug, gehört allen Menschen.
Und da er allen gehört, ist er unsterblich.
Sein Werk ist auch heute noch ein Quell der Inspiration und wird uns eine bessere Zukunft weisen.
Rafael HÜSEYNOV
Korrespondierendes Mitglied der Aserbaidschanischen Nationalen Akademie der Wissenschaften
IRS