Sie spiegelt die Vielschichtigkeit und Komplexität gesellschaftlicher Systeme wider und vereint kreative, künstlerische Prozesse mit der Gestaltung der Lebenswelt, die den Menschen umgibt. Daher werden jene Beschreibungen der Architektur stets zu kurz greifen, die sich lediglich auf ihre technische Charakteristik des „Bauen-Könnens“ beschränken.
Auf dem Gebiet des historischen Aserbaidschans sind zahlreiche architektonische Denkmäler entdeckt worden, die an das Leben und Schaffen von Völkern erinnern, die dort über viele historische Epochen hinweg gelebt haben. Die eingehende Untersuchung dieser Bauwerke lässt auf den hohen Entwicklungsgrad der aserbaidschanischen Architektur schliessen, die nicht umsonst einen Ehrenplatz in der weltweiten Baukunst einnimmt.
Teilweise erhaltene oder in Ruinen liegende Baudenkmäler in Karabach stellen als „steinerne Chronik“ besonders wertvolles Material für die Untersuchung der Ursprünge der dort lebenden Völker dar. Sie dokumentieren ihr kulturelles Erbe und erlauben es, die spezifische Entwicklung der Baukunst, ihre Methoden und Werkzeuge, den Wandel ihrer Komposition und künstlerischen Form, das Wirken grosser Denker auf diesem Gebiet nachzuzeichnen und somit auch die Besonderheiten der karabachischen Architektur und ihren Platz in der Geschichte aserbaidschanischer Baukunst zu verstehen.
Eine zentrale Rolle kommt dabei den kultischen Bauten in Karabach zu. Schon in den ersten Jahrhunderten nach Christus entstanden auf dem Gebiet des kaukasischen Albaniens erste christliche Gemeinschaften. Im Jahr 313 nahm auch der albanische Adel zusammen mit ihrem König Urnayr den christlichen Glauben an. Zu dieser Zeit errichteten Baumeister erste Tempel, die als kultische und rituelle Stätten zu einer Festigung der religiösen Glaubensvorstellungen im Bewusstsein der Menschen beitrugen und somit auch eine sozial-politische und kulturelle Rolle übernahmen [1]. Die zunächst rechteckigen Bauten gaben in der Folgezeit den Anstoss zur Entwicklung der Kuppelbauweise, die durch die zunehmende Komplexität der religiösen Rituale erforderlich wurde. So entstanden vor allem Kreuzbasiliken und Kirchen mit Zentralkuppeln.
Eine andere bedeutsame Richtung der christlichen Architektur auf karabachischem Territorium waren Klosteranlagen, die eine Phase intensiver Entwicklung erlebten und zu wichtigen Zentren von Kultur und Bildung wurden [2]. Die Planung und die Bauweise dieser Klöster orientierte sich dabei vor allem an den funktionalen Anforderungen, die das tägliche Leben in der christlichen Gemeinschaft mit sich brachte: Sakrale Bauten, Räumlichkeiten fürs Lernen und Lehren sowie hauswirtschaftliche Anlagen bestimmten das Bild. Der Kern der Anlage war jedoch den kultischen Stätten und dem kulturellen Leben vorbehalten, so dass sich im planerischen Zentrum unter anderem Tempel, Kapellen, die Gruft und der Glockenturm sowie die Schule und die Bibliothek befanden.
Etwa im 12./13. Jahrhundert waren die meisten bekannten Klosteranlagen vollendet, die über Jahrhunderte der Bautätigkeit zu imposanten Komplexen angewachsen waren. Die Klöster Agoglan (im Rayon Lachin), Khotavan (im Rayon Kalbajar), Amaras (im Rayon Martuni), St. Elisha, Gandzasar oder Gutavan (im Rayon Hadrut) vereinen beispielhaft die Errungenschaften der Architektur und Baukunst der damaligen Zeit. Somit kann die Erforschung der christlichen Sakralbauten, die in diesen Anlagen zu finden sind, uns eine umfassende Vorstellung von dem Entwicklungsstand der monumentalen Architektur dieser Epoche vermitteln [3].
Seit dem 8. Jahrhundert nimmt auch der Islam Einfluss auf die aserbaidschanische Architektur. Wirft man einen Blick auf die islamische Baukunst in der Region zu der Zeit, als Karabach seine höchste Blüte erlebte, wird deutlich, dass die Geographie und die klimatischen Bedingungen, die verfügbaren Bodenressourcen und die besondere Zusammensetzung der Bevölkerung enorme Auswirkungen auf den Entwicklungsprozess der karabachischen Architektur hatten. Sowohl das kulturelle Erbe aus vor-islamischer Zeit als auch die Vermischung und gegenseitige Bereicherung der verschiedenen Völker in Aserbaidschan beeinflussten nicht nur die Baumethoden ganz erheblich, sondern trugen vor allem auch zu einer grossen Vielfalt der architektonischen Stilelemente bei.
Während der islamischen Periode verlor die karabachische Bauweise nicht ihre Originalität und ihren einzigartigen, lokalen Charakter. Lediglich ihre äussere Form änderte sich, ergänzt durch architektonische Traditionen aus Ländern der muslimischen Welt, die ihrerseits künstlerisch verarbeitet und an die regionalen Begebenheiten angepasst wurden. Auf diese Weise trugen die Bauwerke dieser Zeit unverwechselbar die Züge der aserbaidschanischen Kultur in sich, wobei sie gleichzeitig in ihrer Funktionalität und baulichen Kunstfertigkeit der Architektur benachbarter Länder in nichts nachstanden [4].
Die Baukunst dieser Epoche macht deutlich, dass jede historische Periode bestimmte Ideale und Prinzipien entwickelt, die auch in der Architektur zur Geltung kommen. So mussten die Bauwerke nicht nur den funktionalen Anforderungen entsprechen und sich in der Konstruktion und dem Dekor an den verfügbaren Materialien der Region orientieren, sondern dabei auch die ästhetischen Bedürfnisse der Menschen nicht aus den Augen verlieren [5].
Bei der Betrachtung der islamischen Architektur in Aserbaidschan fällt auf, dass eben nicht Einheitlichkeit und Wiederholung, sondern eine enorme Vielfalt grossartiger Bauten das hohe künstlerische Niveau ihrer Gestaltung sicherstellte. So entstanden auf dem Gebiet des historischen Aserbaidschans in verschiedenen Epochen mehrere Architekturströmungen wie die Schulen von Arran, Nakhchivan, Shirvan- Absheron und Täbris.
Trotz aller Unterschiede zwischen diesen Stilen, die in sakralen Bauten, Gedenkstätten oder Palästen deutlich zutage treten, ist ihr gemeinsamer ideeller Kern nicht zu übersehen: Für die muslimischen Architekten waren bestimmte architektonische und stilistische Elemente und die Berücksichtigung eines gewissen islamischen Kanons in der Planung unverzichtbar.
Die Analyse und wissenschaftliche Untersuchung berühmter karabachischer Monumente mit memorialem Charakter – wie des Malik Aydar Mausoleums (12.- 13. Jh., Lachin), des Mausoleums in Beylagan (15. Jh., Rayon Beylagan), der Grabstätte von Sheikh Babi und des Mir-Ali Mausoleums (13.-14. Jh., Rayon Fuzuli), der Mausoleen in Mamedbeyli (14. Jh., Rayon Zangilan) und Barda (13. Jh.), des Akhsadan Baba Mausoleums (14. Jh.) und der Moshee mit Mausoleum von Imamzadeh (17. Jh., Barda Rayon), der Mausoleen von Hachin-Derbatlin (14. Jh.), Panah-Khan (18. Jh.) und Ugurlu-Bekh (19. Jh., Agdam Rayon), der Mausoleen in den Dörfern Damirchilar und Gurdzhiler (13.-14.Jh., Qubadli Rayon) oder des Mausoleums in Khudoyarly (12.-15. Jh., Jabrayil Rayon) – zeigen auf, dass die Kompositionsmethode der räumlichen Struktur dieser Gebäude auf dem allmählichen Übergang vom Ganzen zum Detail beruht [4; 5].
Ein Blick auf die Mausoleen von Karabach macht eine ganze Reihe Kompositionsprinzipien deutlich, die sie alle gemeinsam haben. Ganz zentral ist dabei das Bestreben, einen charakteristischen Zug in das Monument zu integrieren, der über Jahrhunderte hinweg an den Eigentümer erinnern soll – ein Motiv, das in seinen Ursprüngen auf die lange Geschichte östlicher Despotien zurückgeht.
Die Grösse dieser Mausoleen entsprach dabei keineswegs der eigentlichen funktionellen Notwendigkeit. So wurden die oberirdisch gelegenen Kuppeln und Pyramidendächer, die die innerste Kuppel verbargen, so gut wie nicht genutzt. Dennoch wurden sie von den grössten Meistern ihrer Zeit nach aussen kunstvoll gestaltet und verziert. Schon bei der Wahl des Ortes, auf dem das Mausoleum entstehen sollte, wurde darauf geachtet, dass das Monument die gesamte Umgebung dominierte. Auch wenn die Gebäude oft sehr unterschiedlich aussahen und im Grundriss eine kreisrunde, quadratische oder sechseckige Form annahmen, können sie alle ein und demselben Typus zugerechnet werden: dem Zentralkuppelbau.
Am Beispiel der verschiedenen Bauweisen dieser Mausoleen lassen sich zudem auch Erkenntnisse über die chronologische Entwicklung in ihrer Architektur gewinnen, denn es unterscheiden sich unter anderem die Form und die Grösse der in der äusseren Verkleidung verbauten Gesteinsblöcke, die Art der Mauerung sowie die Tiefe und Form des Reliefs bei Inschriften. Um weitreichenderes Wissen über die Entstehung der Turmmausoleen und anderer vergleichbarer Monumente auf karabachischem Gebiet sowie die zukünftige Entwicklung dieser Architekturrichtung zu erhalten, ist die umfassende Beschäftigung mit Literatur und verfügbarem Material zu Grabstätten und Mausoleen auf dem gesamten aserbaidschanischen Staatsgebiet unerlässlich.
Auch die Moscheen in der Karabach-Region verdienen es, erwähnt zu werden, da sie die wichtigsten kultischen Bauten sind und sich zudem durch eine grosse Beständigkeit in ihren Stilelementen auszeichnen. In Karabach – wie auch in ganz Aserbaidschan – gewannen die Moscheen zur Zeit der Islamisierung zunehmend an Ansehen und wurden zu Zentren der neuen Religion. Dabei unterschieden sie sich klar sowohl in ihrer Grösse als auch in ihrer Bedeutung: Die einfach gebauten Moscheen in einzelnen Stadtvierteln oder Dörfern standen beispielsweise den Juma- (oder Freitags-) Moscheen gegenüber, die eine weit höhere Entwicklungsstufe der sakralen Architektur erreichten [6].
Solche Juma-Moscheen prägten ganz wesentlich das Stadtbild vieler Ortschaften in der Region, so wie in Shusha, Agdam, Barda, Fuzuli oder Horadiz. Sie alle haben einen gewölbten Säulengang, ein zu dieser Zeit neues architektonisches Stilelement, das in dieser Form zum ersten Mal in Karabach Verwendung findet.
Dank der Arbeit des Architekten Karbalayi Safikhan Karabakhi (18.-19. Jh.) erhielt die Region einen einheitlichen Typ von Moscheen, der eine charakteristische innere Ausgestaltung aufwies. Dazu gehörten Spitzbögen tragende Säulengänge, Kuppeldächer und Schlichtheit in den dekorativen Elementen. Eine klare Gliederung der Konstruktion bestimmte die innere gestalterische Ordnung der Moschee.
Dieser Artikel kann nur einen kurzen Überblick über die Architektur von Karabach bieten. Die weitere architekturwissenschaftliche und archäologische Erforschung der Region wird in Zukunft aber wohl neuere Erkenntnisse über die Ursprünge der aserbaidschanischen Architektur ans Licht bringen.
Dr. Vilayat Karimov, Architekt
IRS
Literatur
- Геюшев Р.Б. Христианство Кавказской Албании, Баку, 1984; Ахундов Д.А. Архитектура древнего о раннесредневекового Азербайджана. Баку, 1986; Мамедова Г.Г. Культовое зодчество Кавказской Албании, Баку, 1997.
- Керимов В.И. Мамедова Г.Г. Комплекс монастыря св. Елисея и его архитектурные параллели в сопредельных странах. Доклады II межд. симпозиума. Баку, Элм, 1997.
- Ганзадкеци К. История, Баку, 1946.
- Бретаницкий Л.С. Зодчества Азербайджана XII-XV вв. и его место в архитектуре Переднего Востока. М., 1966.
- Саламзаде А.В., Мамедзаде К.М. Памятники на Араксе. Баку, 1980; Саламзаде А.В., Мамедзаде К.М. Памятники нахичеванской школы азербайджанского зодчества. Баку, 1986.
- Фатуллаев Ш.С. Градостроительство и архитектура Азербайджана XIX – начала XX века. Л., 1986.