Im Folgenden werden von Siemens’ „Erinnerungen“ an seine erste Kaukasusreise mit einigen Kürzungen wiedergegeben. Die Auszüge entstammen der Neuauflage der Lebenserinnerungen von 2008, herausgegeben von Prof. Dr. Wilfried Feldenkirchen unter der Redaktion des Siemens Corporate Archives in München und veröffentlicht im Piper Verlag München/Zürich (Seiten 316-342). In seiner Einführung verweist der Herausgeber auf das Anliegen der Aufzeichnung der Lebenserinnerungen:
„Während seiner letzten drei Lebensjahre, vom Sommer 1889 bis zum Sommer 1892, schrieb Werner von Siemens seine Lebenserinnerungen. Das Buch wurde kurz vor seinem Tod im Dezember 1892 veröffentlicht. Als Motivation für die Aufzeichnung seiner Erinnerungen nannte Werner von Siemens in einem Vorwort zum einen die Absicht, verhindern zu wollen, dass seine Bestrebungen und Handlungen »später verkannt und falsch gedeutet werden«. Zum anderen erhoffte er sich mit der Niederschrift , »dass es für junge Leute lehrreich und anspornend sein wird, […] zu ersehen, dass ein junger Mann auch ohne ererbte Mittel und einflussreiche Gönner, ja sogar ohne richtige Vorbildung, allein durch seine eigene Arbeit sich emporschwingen und nützliches leisten kann«. In äusserst anschaulicher und lebendiger Weise liefert Werner von Siemens einen spannenden Bericht über sein ereignisreiches Leben, währenddessen er viele Länder bereiste und mit zahlreichen bekannten Persönlichkeiten der Zeit zusammentraf. Seine Lebenserinnerungen sind nicht nur ein wichtiges Dokument über die Pionierzeit der Technik, sondern auch ein wertvolles Zeugnis der Alltags- und Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts. Sie lassen die Lebens- und Arbeitsbedingungen einer Zeit lebendig werden, in der sich das Leben der Menschen durch den technischen Fortschritt in einem atemberaubenden Tempo und in einem bis dahin unvorstellbares Mass veränderte. […] Der vorliegende Text basiert auf der ersten Auflage der Lebenserinnerungen aus dem Jahr 1892. Der Neubearbeitung lagen folgende Prinzipien zugrunde: aus Gründen der Lesbarkeit wurde die Schreibweise der heutigen Rechtschreibung angeglichen; Phonetik und Grammatik folgen der Erstauflage. Zeitgenössische Spezialbegriffe, zum Beispiel aus dem Bereich der Militärsprache, orientieren sich ebenfalls an der Erstauflage“ (7ff ).
Ankauf der Kupfermine Kedabeg 18641
Schon vor Ausführung der Indo-Europäischen Linie war unser Petersburger Geschäft von der russischen Regierung mit dem Bau und der Remonte2 mehrerer Telegraphenlinien im kaukasischen Russland beauftragt worden und hatte aus diesem Grunde eine Filiale in Tiflis errichtet, deren Leitung meinem Bruder Walter übertragen wurde. Als sich diesem nach Vollendung der Regierungsbauten später keine hinreichende Beschäftigung mehr bot, brachte er uns im Jahre 1864 den Ankauf einer reichen Kupfermine des Kaukasus, zu Kedabeg bei Elisabethpol, in Vorschlag. Da der Bergwerksbetrieb in den Rahmen der geschäftlichen Tätigkeit unserer Firmen nicht hineinpasste, gaben Bruder Karl und ich ihm privatim das zum Ankauf und Betriebe erforderliche, ziemlich niedrig veranschlagte Kapital.
Das Kupferbergwerk Kedabeg ist uralt; es wird sogar behauptet, dass es eins der ältesten Bergwerke sei, aus denen bereits in prähistorischer Zeit Kupfer gewonnen wurde. Dafür spricht schon seine Lage in der Nähe des grossen Goktscha-Sees3 und des von dem westlichen Ufer desselben aufsteigenden Berges Ararat, eine Gegend, die ja vielfach als die Wiege der Menschheit betrachtet wird; eine Sage erzählt sogar, das schöne Tal des Schamchorflusses, welches zum Waldreviere des Bergwerks gehört, sei der Ort des biblischen Paradieses gewesen. Jedenfalls zeugt für das Alter des Bergwerksbetriebes die Unzahl alter Arbeitsstätten, die den Gipfel des erzführenden Berges krönen, ferner das Vorkommen gediegenen Kupfers und endlich der Umstand, dass in der Nähe Kedabegs ausgedehnte prähistorische Grabfelder liegen, deren Erforschung Rudolf Virchow grosses Interesse zugewendet hat.
Das Bergwerk hat eine wirklich paradiesisch schöne Umgebung mit gemässigtem Klima; es liegt etwa 800 Meter hoch über der grossen kaukasischen Steppenebene, die sich vom Fusse des als Goktscha-Kette bezeichneten Ausläufers des kleinen Kaukasus bis an das Kaspische Meer hinzieht. Der Betrieb desselben kam, als der uralte, auf die Verarbeitung der zu Tage tretenden Erze gerichtete Pingenbau4 nicht weiter fortgesetzt werden konnte, in die Hände der Griechen, deren schräge, treppenförmig niedergetriebenen Schachte, aus denen sie auf dem Rücken Erze und Wasser hinaustrugen, zur Zeit der Übernahme durch Bruder Walter noch im Betriebe waren. Der Bergbau nach modernen Prinzipien wurde von uns mit sehr sanguinischen Erwartungen, wie das bei derartigen Unternehmungen gewöhnlich der Fall ist, unter Leitung eines jüngeren preussischen Berg- und Hüttenmannes, des Dr. Bernoulli, begonnen. Es zeigte sich aber bald, dass bedeutende Schwierigkeiten zu überwinden waren und grosse Geldsummen aufgewendet werden mussten, um einen lohnenden Betrieb des Werkes herbeizuführen. Dies ist auch erklärlich, wenn man sich vorstellt, dass das Werk etwa 600 Kilometer vom schwarzen Meere entfernt liegt und mit demselben damals weder durch Eisenbahn noch ordentliche Strassen in Verbindung stand, dass alle für das Bergwerk und die zu erbauende Kupferhütte erforderlichen Materialien bis auf die feuerfesten Steine, die es im Kaukasus noch nicht gab, aus Europa bezogen werden mussten, und dass für das Leben einer europäischen Kolonie in dieser paradiesischen Wüste, in der Erdhöhlen als menschliche Wohnungen dienten, alle Kulturbedingungen erst zu schaffen waren.
Erste Reise in den Kaukasus 1865
Kein Wunder, dass die Höhe der Geldsummen, die das Bergwerk verschluckte, über alle Erwartung gross wurde, so dass sich uns Brüdern bald die Frage aufdrängte, ob wir die Unternehmung fortsetzen oder wieder aufgeben sollten. Um eine Entscheidung zu treffen, entschloss ich mich im Herbst des Jahres 1865, selbst nach dem Kaukasus zu reisen und mich durch den Augenschein über die Sachlage zu unterrichten. Ich zähle diese kaukasische Reise zu den angenehmsten Erinnerungen meines Lebens. Ein stilles Sehnen nach den Urstätten menschlicher Kultur hatte ich stets empfunden, und Bodenstedts5 glühende Schilderungen der üppigen kaukasischen Natur hatten dieses sehnen nach dem Kaukasus geleitet und längst den Wunsch in mir rege gemacht, ihn kennen zu lernen. Für die Reise sprach noch, dass ich durch den nach so schweren Leiden erfolgten Tod meiner geliebten Frau geistig und körperlich sehr angegriffen war und einer Auffrischung dringend bedurfte.
So reiste ich denn Anfang October 1865 über Pest nach Basiasch, wo ich mich auf einem der schönen Donaudampfer nach Tschernawoda einschiffte, um von da über Küstendsche zu Schiff nach Konstantinopel zu fahren. […] trotz der Herrlichkeit und Grossartigkeit seiner Lage, die auf den ersten Blick verrät, dass es an einem für die Weltherrschaft prädisponierten Platze liegt, macht Konstantinopel mit dem gegenüberliegenden Pera von der See aus betrachtet keinen eigentlich freundlichen oder erhebenden Eindruck. […] Es freute mich während meines Aufenthaltes in Konstantinopel verschiedene der Instruktionsoffiziere anzutreffen, die schon unter Friedrich Wilhelm III. zur Reorganisation der türkischen Armee dahin gesandt waren, und unter ihnen einige zu finden, die ich aus meiner Militärzeit noch kannte. Diese Offiziere waren ohne Ausnahme Christen und gute Deutsche geblieben, während die mit ihnen nach Konstantinopel gegangenen Unteroffiziere zum Teil Mohammedaner geworden und infolgedessen bereits zu höheren Rangstufen in der Armee erhoben waren. Ein solcher Renegat begegnete mir in Trapezunt6, wohin ich mit dem nach Poti gehenden Dampfer weiter reiste, nachdem ich mich nur wenige Tage in Konstantinopel aufgehalten hatte.
[…] In Poti empfing mich mein Bruder Walter, in dessen Begleitung ich nun die Reise nach Tiflis fortsetzte, die damals und auch noch drei Jahre später, als ich zum zweiten Male nach Kedabeg reiste, mit grossen Beschwerden verknüpft war. Man fuhr zunächst mit einem Flussdampfer den Rion hinauf bis Orpiri, einem Orte, der ausschliesslich von einer russischen, aus lauter bartlosen Männern bestehenden Sekte bewohnt wurde, die aus dem ganzen russischen Reiche dorthin geschafft war. Abgesehen von dem interessanten Gewirre der verschiedenartigsten Nationalitäten und sprachen an Bord des Schiffes war die einzige Merkwürdigkeit, welche die Fahrt auf dem Rion bot, der Anblick eines wirklich undurchdringlichen, sumpfigen Urwaldes auf beiden Ufern des Flusses.
[…]
Erlebnisse im Kaukasus
Von Tiflis führte unser Weg auf ziemlich guter Chaussee weiter nach Akstapha, wo die Strasse nach Baku über Elisabethpol von der zum Goktscha-See und nach Persien sich trennt und die grosse, bis zum Kaspischen Meere sich erstreckende Steppe ihren Anfang nimmt. Der hohen Temperatur wegen wollten wir unsere Reise von dort am frühen Morgen fortsetzen und bestellten die Pferde zu drei Uhr früh. Der Posthalter widersetzte sich dem aber energisch, da eine Räuberbande die Gegend unsicher machte. Es ist der russischen Regierung bis auf den heutigen Tag nicht gelungen, das Räuberunwesen im Kaukasus ganz auszurotten. Die Tataren der Steppe und der angrenzenden Berglandschaften können trotz harter Strafen nicht davon lassen. Noch jetzt, im Sommer 1890, wo ich mich rüste, mit meiner Frau und jüngsten Tochter eine dritte Reise nach Kedabeg zu machen, erhalte ich die Nachricht, dass eine Räuberbande in der Umgegend unseres Bergwerks ihr Unwesen treibe und zu umfassenden Massregeln gegen sie Veranlassung gegeben habe.
Dieses immer von neuem wieder auftauchende kaukasische Räuberthum hat seine tiefere Begründung in den Lebensgewohnheiten und Anschauungen der Bevölkerung eines Landes, in welchem das Waffentragen noch den Stolz des Mannes bildet. Das Räubern wird dort mehr als unerlaubter Sport, denn als gemeines verbrechen betrachtet. Wie Ritter im Mittelalter es mit ihrer würde für vereinbar hielten, dem Krämer auf der Landstrasse seine waren fortzunehmen und die Bürger der Städte zu brandschatzen, so sehnt sich der kaukasische Tatar danach, als freier Mann auf schnellem Ross durch Wälder und Steppe zu streichen und mit Gewalt zu nehmen, was ihm in den Weg kommt. Es ist in Kedabeg, wo die Tataren zu den besten und zuverlässigsten Arbeitern gehören, vielfach vorgekommen, dass Grubenarbeiter, die Jahre lang fleissig und – da die muselmännische Sekte der Schiiten, der sie angehören, nur einen Festtag im Jahre und keinen Sonntag hat – fast ohne Unterbrechung gearbeitet hatten, plötzlich verschwanden, wenn sie Geld genug erspart, um sich Waffen und ein Pferd zu beschaffen. Bisweilen kehrten sie nach längerer Zeit wieder zurück. Man wusste, dass sie in der Zwischenzeit Räuberei getrieben, doch hinderte sie das nicht, wieder tüchtige Arbeiter zu werden, wenn sie bei der Räuberei Unglück gehabt oder die Lust daran verloren hatten.
Die Warnungen des Posthalters zu Akstapha vermochten uns nicht zurück zu halten, wir setzten vielmehr in der kühlen, sternklaren Nacht mit schnellen Pferden unsere Reise fort und vertrauten dabei auf unsere guten Revolver, die wir zur Vorsicht schussfertig in der Hand hielten. Mein Bruder Walter aber, den die Neuheit der Lage nicht mehr so wie mich munter erhielt, konnte der Müdigkeit nicht lange widerstehen und schlief bald den Schlaf des Gerechten. Plötzlich ertönte vom Bock unseres niedrigen, federlosen Leiterwagens, auf dem der Diener meines Bruders neben dem Kutscher sass, der laute Aufschrei: “Räuber!“ Gleichzeitig sah ich im Halbdunkel eine weisse Gestalt gerade auf uns zu galoppieren. Mein Bruder erwachte infolge des Geschreis und schoss, ohne sich weiter zu besinnen, seinen Revolver auf die schon dicht vor unseren Pferden befindliche und selber laut schreiender Gestalt ab, glücklicherweise ohne sie zu treffen. Wie sich bald herausstellte, war es kein Räuber, sondern ein Armenier, der sich von Räubern verfolgt wähnte und Schutz suchend auf uns Losgejagt war. Die Armenier gelten im Kaukasus allgemein für sehr schlaue und gewandte Geschäftsleute, die wenig Mut haben und es vielleicht aus diesem Grunde lieben, sich auf Reisen möglichst kriegerisch auszustatten. Wie es schien, bestand die Räuberbande, die unseren Armenier erschreckt hatte, nur in seiner Einbildung. seine Unvorsichtigkeit hätte ihm aber leicht übel bekommen können, und das wäre ganz seine eigene Schuld gewesen, da es nach Landesbrauch eine gebotene Vorsichtsmassregel ist, Reisenden, denen man begegnet, niemals in schneller Gangart zu nahen.
Kurz nach diesem aufregenden Vorfalle wurden wir durch eine merkwürdige Naturerscheinung erfreut. Es tauchte plötzlich am Horizonte der unbegrenzten Steppe gerade vor uns eine glänzende Lichterscheinung auf; sie strahlte in prachtvollem, vielfarbigem Lichte, unterschied sich von einem Meteor aber dadurch, dass sie unbeweglich an derselben Stelle des Himmels verharrte. Wir zerbrachen uns den Kopf über die Ursache der Erscheinung, die wir nur der einer Fallschirmrakete mit Buntfeuer vergleichen konnten. Sie wurde aber bald schwächer und schrumpfte nach kurzer Zeit zur Grösse eines hellen Sternes zusammen. Es war die aufgehende Venus, welche durch die Steppennebel und das dunkel, in das die Erde in jenen südlichen Gegenden selbst kurz vor Sonnenaufgang noch gehüllt ist, so merkwürdig vergrössert und gefärbt erschien.
Wir übernachteten in der schwäbischen Kolonie Annenfeld, die am Fusse eines steilen Bergabhanges, der zum Bergwerk Kedabeg hinausführt, nahe dem Kur in sehr fruchtbarer, aber nicht gesunder Gegend liegt oder vielmehr lag, denn die Kolonie hat später den Ort verlassen und sich etwa fünfhundert Fuss höher am Abhange des Gebirges ein neues Dorf erbaut. Es gibt im Kaukasus eine ganze Anzahl solcher schwäbischen Kolonien, ich glaube sechs oder sieben; auch Tiflis gehört dazu. Sie verdanken ihren Ursprung streng gläubigen Lutheranern aus Schwaben, die in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts in verschiedenen Zügen ihr Vaterland verliessen und auf dem Landwege über Österreich und Russland nach dem gelobten Lande wandern wollten, wo nach Meinung ihrer Führer irdische und himmlische Freuden sie erwarteten. Der russischen Regierung lag aber damals viel an der Einwanderung tüchtiger deutscher Ackerbauer im Kaukasus, sie hielt daher die Kolonnen dort an und veranlasste sie, unter ihrem Geleit eine Kommission nach Jerusalem vorauszuschicken, die erst prüfen sollte, ob dort auch wirklich passendes Land für sie zu haben sei. Als diese nach längerer Frist zurückkehrte, konnte sie nur davon abraten, den Marsch nach dem gelobten Lande fortzusetzen, und da die russische Regierung den Leuten freigebig grosse, schöne Langstrecken überwies, so blieben die Schwaben dort und sind auch immer die alten Schwaben geblieben, die sie zur Zeit ihrer Auswanderung gewesen sind. Es ist überraschend, in diesen schwäbischen Niederlassungen ganz unvermittelt die unverfälschte altschwäbische Sitte und Sprache anzutreffen. Man glaubt, plötzlich in ein Schwarzwalddorf versetzt zu sein, so sehen Häuser, Strassen und Bewohner dieser Kolonien aus. Es wurde mir zwar schwer, ihre Sprache zu verstehen, da ich sie noch nicht studiert hatte, wie es jetzt nach zwanzigjähriger Ehe mit einer Schwäbin einigermassen der Fall ist, ich hörte aber von einem echten Schwaben, dass auch er sie nur mit Mühe verstehe, da es der im Anfange des Jahrhunderts gesprochene, und nicht der heutige, durch den Einfluss der Zeit wesentlich veränderte Dialekt sei. Gleich der Sprache haben die Leute auch alle ihre Sitten und Gebräuche beibehalten, so wie sie bei ihrer Auswanderung bestanden. Sie sind gleichsam versteinert und wehren sich erbittert gegen jede Änderung.
Es scheint aber, als ob diese Unveränderlichkeit der Volkssitten und Sprachen eine allgemeine Eigenschaft des Kaukasus sei, der ein wahres Völkermosaik darstellt. Ausser den grösseren, scharf voneinander getrennten Völkerschaften gibt es daselbst noch eine Menge ganz kleiner, die besondere, nur schwer zugängliche Gebirgstäler bewohnen und Sprache wie Sitten, die seit undenklichen Zeiten ganz verschieden von denen aller benachbarten Völker gewesen sind, treu bewahrt haben. Ferner existieren im Kaukasus noch zahlreiche russische Kolonien, die von Sekten gebildet werden, welche der erstrebten Glaubenseinheit wegen aus ganz Russland dorthin transportiert und in besonderen Ansiedelungen vereinigt sind. Auch diese haben nach mehr als einem halben Jahrhundert Sprache, Glauben und Sitten noch völlig unverändert beibehalten. Die verbreitetsten dieser Sekten sind die der Duchaboren7 und Malakaner8, die sich wie die der Schwaben auf bestimmten, eigentümlich ausgelegten biblischen Aussprüchen aufgebaut haben. Es sind lauter tüchtige Arbeiter und ordentliche Leute, wenn sie nicht gerade von ihrem Fanatismus ergriffen sind. Die Malakaner sind fast ohne Ausnahme Handwerker, vorzugsweise Tischler, die Duchaboren dagegen gute Landwirte und Fuhrleute. Die Nachbarschaft einer Duchaboren-Kolonie ist für Kedabeg stets von unschätzbarem Werte gewesen. Nur eine Zeit im Jahre versagen die Leute gänzlich; dann zieht ihre Königin von einer Kolonie zur andern und feiert mit ihnen religiöse Feste, die aber auf irdische Glückseligkeit ein recht hohes Gewicht zu legen scheinen, vielleicht nur, um den Gläubigen einen schwachen Begriff von der erhofften, unendlich grösseren jenseitigen zu geben.
Von Annenfeld führt ein steiler, nicht sehr gebahnter Weg nach Kedabeg hinaus. In etwa tausend Meter Höhe erreicht derselbe eine wellige, von kleinen Bergzügen durchbrochene, fruchtbare Ebene, die früher von schönen Wäldern aus Steineichen, Linden, Buchen und anderen Laubhölzern bedeckt war. Seit die Herrschaft der Perser aufgehört hat, deren Kulturspuren man namentlich an den Trümmern ausgedehnter Bewässerungsanlagen noch vielfach erkennt, sind die Waldungen hier wie in den meisten hochgelegenen Ebenen des Landes schon gänzlich ausgerottet, weil die Hirten der Steppe im heissen Sommer, wenn das Gras verdorrt, und auch im Winter, wenn die Steppe mit Schnee bedeckt ist, ihre Herden auf die Berge treiben, um sie mit Hilfe der Wälder zu ernähren. Sie fällen zu dem Zwecke einfach Bäume und lassen das Vieh die Knospen und zweigspitzen fressen. Auf diese Weise vernichtet eine einzige Herde oft Quadratwerste üppigen Waldes. Unserer Hüttenverwaltung hat es daher auch stets die grössten Schwierigkeiten bereitet, diese verwüstenden Herden an der Zerstörung unserer Waldungen zu hindern, auf deren Erhaltung der Hüttenbetrieb in Ermangelung von Steinkohlen oder anderem Brennmaterial allein angewiesen war.
Das Hüttenwerk liegt an einem kleinen Gebirgsbache, welcher unterhalb Kedabegs in schroffem Durchbruche den Bergrücken durchschneidet, der Kedabeg von dem paradiesisch schönen Schamchortale trennt. In dem Durchbruchstale liegen die Trümmer einer kleinen armenischen Festung, während das Schamchortal etwa in der Höhe von Kedabeg ein altes armenisches Kloster birgt, das damals noch von einigen Mönchen bewohnt wurde. Gegenwärtig ist der Anblick Kedabegs, wie man ihn empfängt, wenn man aus dem Tale heraufkommend die letzte Berglehne überschritten hat und an einem alten Kirchhofe, der am Wege liegt, vorüber gegangen ist, ein sehr überraschender. Es ist das ganz europäische Bild einer romantisch gelegenen, kleinen Fabrikstadt, das sich dem Blicke darbietet, mit gewaltigen Öfen und grossen Gebäuden, darunter ein christliches Bethaus, eine schule und ein europäisch eingerichtetes Wirtshaus; auch eine über einen hohen Viadukt führende Eisenbahn ist vorhanden, welche die ungefähr dreissig Kilometer entfernte Hüttenfiliale Kalakent mit Kedabeg und dem benachbarten Erzberge verbindet. Dieser merkwürdige Anblick einer modernen Kulturstätte mitten in der Wildnis hat Kedabeg förmlich zu einer Wallfahrtsstätte für die Landesbewohner bis tief nach Persien hinein gemacht. Damals, als ich es zum ersten Male besuchte, war das Aussehen Kedabegs freilich noch ein ganz anderes. Ausser dem hölzernen Direktorialgebäude, das sich auf einer dominierenden Höhe dem Auge zeigte, waren nur wenige Hütten und Verwaltungsgebäude sichtbar. Die Arbeiterwohnungen waren nur durch Rauchstellen an den Bergabhängen kenntlich, denn sie bestanden sämtlich aus Erdhöhlen.
Erdhöhlen dienen im östlichen Kaukasien fast ausschliesslich als Wohnungen. Es sind eigentlich Holzhäuser, die in einer Grube aufgebaut und darauf mit einer meterdicken Erdschicht überdeckt werden, so dass das Ganze wie ein grosser Maulwurfshügel aussieht. Inmitten der Decke ist ein Schlot vorgesehen, der dem Rauch einen Abzug aus dem einzigen inneren Raume gewährt und zugleich der einzige Lichtspender ausser dem Eingange ist. Übrigens werden derartige Erdhöhlen auch ganz elegant ausgeführt. Bei einem Besuche, den ich einem benachbarten »Fürsten« – so nennen sich die grösseren Landbesitzer der Gegend – in Begleitung meines Bruders und des Hüttendirektors abstattete, wurden wir in einen ziemlich geräumigen, saalartigen Raum geführt, dessen Fussboden mit schönen Teppichen belegt war, während die inneren Wände in kulissenartig aufgehängten persischen Teppichen bestanden. Dem Diwan gegenüber befand sich die Feuerstelle, über ihr die Deckenöffnung. Hinter den Teppichen war es lebendig, und man hörte hin und wieder Frauen und auch Kinderstimmen. Der Fürst empfing uns mit grosser Zeremonie und nötigte uns auf den Diwan, während er selbst sich vor demselben niederliess. Nach einer kurzen, verdolmetschten Unterhaltung, die sich in orientalischen Höflichkeitsformeln bewegte, wollten wir wieder aufbrechen, begegneten dabei aber sehr ernstem Widerstande. Bald nach unserem Eintritte hatten wir das Blöken eines Schafes gehört und gleich vermutet, dass es uns zu Ehren geschlachtet werden sollte. In der Tat liess der Fürst uns mit sehr ernster Miene sagen, wir würden ihn doch hoffentlich nicht so kränken, sein Haus zu verlassen, ohne seine Gastfreundschaft genossen zu haben. Wir mussten also geduldig abwarten, bis das »Schischlick« fertig war, welches darauf vor unseren Augen bereitet wurde. Es geschah diese Zubereitung in der üblichen, sehr primitiven weise. Das Fleisch des frisch geschlachteten Hammels wurde in etwas über walnussgrosse Würfel zerschnitten, die dann mit Zwischenlagen von Fettscheiben aus dem Fettschwanze des Hammels auf einen eisernen Ladestock gereiht wurden. Unterdessen war zwischen zwei Steinen ein Holzfeuer angemacht, und als von ihm nur noch glühende Kohlen geblieben, wurden die vorbereiteten Ladestöcke über die Steine gelegt und häufig gedreht. In wenigen Minuten war nun die Mahlzeit fertig, und jeder Gast zog sich nach Bedürfnis von dem ihm präsentierten, garnierten Ladestock Würfel ab. Ein solches Schischlick ist, wenn der Hammel nicht zu alt und namentlich ganz frisch geschlachtet ist, sehr zart und wohlschmeckend; es bildet bei tatarischen und grusinischen Mahlzeiten stets die Grundlage oder was man bei unsern Diners die »pièce de résistance« nennt.
So wie unterirdische Fürstensitze baut man auch grosse unterirdische Stallungen im Kaukasus. Ich hatte solche schon während der Reise auf einer der Poststationen kennengelernt, wo ich durch Wiehern und Pferdegetrampel unter mir darauf aufmerksam wurde, dass ich auf einem Pferdestalle promenierte. Man rühmt die Kühle der unterirdischen Behausungen im Sommer und ihre Wärme im Winter, und es hat der Hüttendirektion zu Kedabeg viel Mühe gekostet, die asiatischen Arbeiter an Steinhäuser zu gewöhnen. Als dieses schliesslich mit Hilfe der Frauen gelang, war damit denn auch die schwierige Arbeiterfrage gelöst. Da nämlich die Leute dort nur sehr geringe Lebensbedürfnisse haben, so liegt kein Grund für sie vor, viel zu arbeiten. Haben sie sich so viel Geld verdient, um ihren Lebensunterhalt für etliche Wochen gesichert zu haben, so hören sie auf zu arbeiten und ruhen. Es gab dagegen nur das eine Mittel, den Leuten Bedürfnisse anzugewöhnen, deren Befriedigung bloss durch dauernde Arbeitsleistung zu ermöglichen war. Die Handhabe dazu bildete der dem weiblichen Geschlechte angeborene Sinn für angenehmes Familienleben und seine leicht zu erweckende Eitelkeit und Putzsucht. Als einige einfache Arbeiterhäuser gebaut und es gelungen war, einige Arbeiterpaare darin einzuquartieren, fanden die Frauen bald Gefallen an der grösseren Bequemlichkeit und Annehmlichkeit der Wohnungen. Auch den Männern behagte es, dass sie nicht mehr fortwährend Vorkehrungen für die Regensicherheit ihrer Dächer zu treffen brauchten. Es wurde nun weiter dafür gesorgt, dass die Frauen sich allerlei kleine Einrichtungen beschaffen konnten, die das Leben im Hause gemütlicher und sie selbst für ihre Männer anziehender machten. Sie hatten bald Geschmack an Teppichen und Spiegeln gefunden, verbesserten ihre Toilette, kurz sie bekamen Bedürfnisse, für deren Befriedigung die Männer nun sorgen mussten, die sich selbst ganz wohl dabei befanden. Das erregte den Neid der noch in ihren Höhlen wohnenden Frauen, und es dauerte gar nicht lange, so trat ein allgemeiner Zudrang zu den Arbeiterwohnungen ein, der allerdings dazu nötigte, für alle ständigen Arbeiter Häuser zu bauen.
Als ich drei Jahre später Kedabeg wieder besuchte, fand ich aus der Troglodytenniederlassung bereits eine ganz ansehnliche Ortschaft europäischen Aussehens entstanden. Das Gros der Arbeiter war freilich noch nomadisierend, ist dies aber auch bis auf den heutigen Tag geblieben. Es sind Leute, die nach Beendigung der Ernte namentlich aus Persien kommen, fleissig im Bergwerke oder in der Hütte arbeiten, aber weiterziehen, wenn sie das nötige Geld verdient haben oder die Heimat ihrer bedarf. Jedoch ist ein fester Arbeiterstamm vorhanden, der den Fortgang der notwendigen Arbeiten zu jeder Zeit sicherstellt. Die Beamten des Werkes waren stets fast ohne Ausnahme deutsche, unter ihnen ein kleiner Teil aus den russischen Ostseeprovinzen. Die Geschäftssprache ist deshalb immer die deutsche gewesen.
Es ist spasshaft anzuhören, wenn Tataren, Perser und Russen die etwas korrumpierten deutschen Namen von Gerätschaften und Operationen und dabei auch die in den Hüttenwerken des Harzes gebräuchlichen Scheltworte radebrechen. […]“.
Anmerkungen
1 Nachfolgender Textauszug aus: Siemens, Werner von: Lebenserinnerungen, München 2008, 316-342. zum Wirken der Firma Siemens in Aserbaidschan siehe: auch, E.M.: Öl und Wein am Kaukasus. Deutsche Forschungsreisende, Kolonisten und Unternehmer im vorrevolutionären Aserbaidschan, Wiesbaden 2004.
2 Remonte-Verträge waren mit der russischen Regierung vereinbarte, spezielle Wartungsverträge. Sie sollten sich nach der Erfindung des sogenannten Tatarengalvanometers durch Werner von Siemens, das die genaue Lokalisierung von Störungen erlaubte und den Wartungsaufwand erheblich reduzierte, als lukrative Einnahmequelle erweisen.
3 Goktscha-See = auch Sewansee genannt, ist ein See der im heutigen Armenien liegt. Der türkische Name des Sewansees ist „Gökcay“, was „himmelblaues Wasser“ bedeutet. In der Literatur taucht oft die Schreibung Gotcha oder Goktscha auf.
4 Pingenbau (auch Bingenbau) ist „eine einfache bergmännische Abbauweise zutage anstehender stockförmiger Lagerstätten, bei der an der Oberfläche kesselförmige Vertiefungen, Bingen oder Pingen genannt, hergestellt werden“ (Quelle: http:// www.zeno.org/lueger-1904/a/ Bingenbau).
5 Friedrich Martin von Bodenstedt (1819-1892) war ein deutscher Schriftsteller, der in Moskau und Tiflis als Lehrer tätig war. In Tiflis begegnete er dem aserbaidschanischen Dichter Mirza Schäfi Vazeh (1794-1852), der ihn die kaukasische Literatur und Sprachen näherbrachte. In Deutschland veröffentlichte er die „lLeder des Mirza Schaffy“ (1851), welche zu den erfolgreichsten und populärsten orientalistischen Veröffentlichungen des 19. Jahrhunderts wurden.
6 Trabzon, türkische Stadt im Nordosten der Türkei, am Schwarzen Meer gelegen.
7 Duchobaren = auch Duchoborzen genannt, sind eine von der russisch-orthodoxen Kirche abweichende christliche Religionsgemeinschaft. Die Duchoborzen lehnen eine weltliche Regierung, die göttliche Inspiration der Bibel und die Göttlichkeit Jesus ab (Nichttrinitarier). Darüber hinaus sind sie strenge Pazifisten, verweigern den Kriegsdienst ebenso wie den Eid. Sie haben ihre Ursprünge in der Molokanischen Glaubensgemeinschaft.
8 Malakaner = Molokanen; „Milchtrinker“, weil sie an den Fastentagen Milch zu sich nehmen, sie sind eine Gruppierung des spirituellen Christentums in Rusaus ihnen haben sich die Duchoborzen (siehe oben) und die Subbotniki entwickelt. Das zentrale Element ihrer Lebensführung bildet die Bibel und sie sehen sich in der Nachfolge des Urchristentums. Die Blütezeit der Gemeinschaft fällt etwa in die Jahre 1820 bis 1830, als ihr Haupteinflussgebiet an der mittleren Wolga lag. Sie mussten ab 1830 Gemäss einem Plan der zaristischen Regierung in den Süden des Kaukasus auswandern. Das Ziel war, religiös „abtrünnige“ Russen aus Zentralrussland zu entfernen und gleichzeitig ethnische Russen in Transkaukasien anzusiedeln.
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