Jahrtausende alte Neujahrsfeiern – Novruz Bayrami

Die Avesta, das heilige Buch des Zoroastrismus, beschreibt Novruz als das Fest der natürlichen Reichtümer und unterstreicht die starke Verbindung zwischen Natur und Mensch. Die Avesta definiert Novruz als Feier der Fruchtbarkeit und Symbol von Wachstum, Wohlergehen und Reichtum.

Sowohl in Aserbaidschan als auch in den anderen Ländern und Regionen, in denen Novruz gefeiert wird, existieren viele Legenden und Mythen um den Feiertag.

Präzoroastrische und präislamische Legenden verweisen auf unterschiedliche Entstehungsgeschichten. So besagt zum Beispiel eine Legende, dass Sijavasch (nach dem Sijavarsan der Avesta), ein Sohn des Kay Kavus, im Haus des turanischen Königs Afrasiab erschien. Letzterer hiess den Gast freundlich willkommen und um ihre Freundschaft in ein verwandtschaftliches Verhältnis zu verwandeln, gab er ihm seine Tochter zur Frau. Als Zeichen seiner Dankbarkeit erbaute Siyavash die Festungswälle von Buchara, eine der bedeutenden Städte in Afrasijabs Reich. Leider gelang es den Widersachern der beiden sie gegeneinander auszuspielen und so befahl Afrasijab, Sijavasch zu töten und seinen Leichnam von der Stadtmauer zu werfen. Doch entgegen dem Befehl des Königs begruben die Zoroastrier Sijavasch bei den östlichen Stadttoren und trauerten um ihn, indem sie Trauerverse für ihn komponierten. Einige erhaltene Quellen legen nahe, dass der Tag an dem Sijavasch beerdigt wurde, Novruz genannt wurde und fortan als Feiertag galt.

Eine andere Legende verbindet Novruz mit noch früheren Zeiten: Zu jener Zeit als der Sohn des Oghuz (ein heldenhafter Vorfahre der Oghuz-Türken) lebte, waren die Winter äusserst kalt und es war schwer zu überleben. Der Sohn des Oghuz lebte in einer Höhle und hortete im Frühjahr, Sommer und Herbst alles, was er finden konnte. Nun war ein Winter ganz besonders streng und lang. Oghuz‘ Sohn hatte schliesslich all seine Vorräte aufgebraucht und es blieb ihm nichts übrig als am dreissigsten Tag des Grossen Chilli hinauszugehen (der Grosse Chilli war damals einer der beiden kältesten Wintermonate, der 40 Tage währte und vom Kleinen Chilli gefolgt wurde, der weitere 20 Tage dauerte) um etwas Essbares zu suchen. Stundenlang suchte er ohne etwas zu finden. Sein Bart war mit Reif bedeckt, Hände und Füsse nahezu erfroren. Völlig enttäuscht schlug er den Rückweg zur Höhle ein, wo er einem jungen Wolf begegnete.

„Woher kommst du, Sohn des Oghuz, und wo willst du hin?“ fragte er.

Und so erzählte der Sohn des Oghuz dem Wolfsjungen von seiner Not und berichtete, dass es Monate gebe, in denen man satt und glücklich ist, aber auch andere voller Hungersnot. Der junge Wolf entgegnete:

„Folge dieser Strasse und du wirst eine Herde Schafe finden, eine Garbe Weizen, ein Spinnrad und eine Handmühle. Bringe all das in deine Höhle. Dann kannst du das Lammfleisch essen, die Wolle zu Garn spinnen und dir so ein paar Kleider nähen, du kannst die Körner aus den Weizenähren mahlen und dir Brot backen. Ich hoffe, so wirst du den Winter überleben. Nur achte darauf, meine Geschenke wie deinen Augapfel zu hüten. Du musst selber Schafe züchten und Weizen anbauen. Für die Lämmer musst du sorgen und du wirst hart arbeiten müssen, um die Saat aufgehen und wachsen zu sehen. Wenn du all das nicht schaffst, wird es sehr schwer für dich zu überleben, Sohn des Oghuz …“

So ging der Sohn des Oghuz die Strasse hinunter und fand alles so vor wie der junge Wolf ihm sagte und brachte es in seine Höhle. Dadurch überlebte er den Winter und im Frühling trieb er die Schafe auf die Berghänge, säte das Korn und achtete auf das Wachstum der gelben Weizenähren. Und wahrer Reichtum wurde dem Sohn des Oghuz zu Teil! Von da an arbeitete er das ganze Jahr über hart. Doch wenn der Tag, an dem er dem jungen Wolf begegnet war, näher kam, traf er Vorbereitungen für ein grosses Fest. Über fünf Tage eines jeden Jahres ass und trank er, sang, tanzte und feierte das Fest mit seinen Nächsten. Der Sohn des Oghuz taufte diesen Tag „Novruz“ und machte es zu einem Brauch diesen Tag zu feiern, denn Novruz hatte ihm Glück gebracht.

Quellen zufolge war es schon während der Achämeniden-Herrschaft (558-330 v. Chr.) Sitte, Novruz zu feiern. Festrituale aus dieser Zeit beschreiben das Leben der Ackerbauern, die landwirtschaftlichen Arbeitsweisen und die reichen Ernten. Als verschiedene Herrscher und Religionen versuchten die feierlichen Anlässe auf sich zu beziehen, verloren die Festtage ihrem mythischen Ursprung und erhielten neue, reale Bezüge. Versuche das Brauchtum vollkommen zu islamisieren scheiterten. Weder dem Zoroastrismus noch dem Islam gelang es, die Novruzfeierlichkeiten zu einem Teil ihrer Religion zu machen. Denn Novruz konnte seine ursprünglichen humanen und naturbezogenen Werte bewahren. Noch heute betrachten es die Menschen als ein universelles, von religiösen Bezügen losgelöstes Fest.

Bereits im Altertum wurde Novruz in literarischen Werken des Orients behandelt. So gibt beispielsweise Firdausi im Schahnamä, dem „Buch der Könige“, an, dass Novruz in den ersten Tagen des Farvadin, dem ersten Monat des Jahres nach dem iranischen Kalender, gefeiert wird. Ebenso belegen sowohl „Iskändärnamä“ von Nisami als auch „Sadd-I-Iskandari“ von Alischir Navai (beides Dichtungen über Alexander den Grossen), dass Novruz in der Zeit um 350 v. Chr. der bedeutendste Feiertag war. Es ist kein Zufall, dass der Hauptdarsteller in Nisamis „Iskändärnamä“ in der Residenz der Königin Nuschaba von Barda während der Novruz-Feierlichkeiten eintrifft. Alte Handschriften sind weitere Nachweise für den Umstand, dass die Menschen Novruz als den Kalendertag verstanden, der die Bahn der Erde um die Sonne und den Wechsel der Jahreszeiten symbolisiert. Als Neujahr empfanden sie den Beginn eines neuen Abschnitts, dem Frühling und damit auch den Beginn einer neuen Arbeitsphase in Einklang mit der Natur.

Novruz hat sich bis in die Gegenwart zu einem wesentlichen Bestandteil des öffentlichen Bewusstseins entwickelt, was sich in vielen kulturellen Elementen wie dem Yalli (einem beliebten Volkstanz, traditionell auf der Zurna gespielt) und in weiteren Bräuchen, Riten, Vorführungen, Spielen und Liedern wiederfindet. Rituale und Gesänge im Vorfeld des festlichen Ereignisses drücken die Hoffnungen und Wünsche der Menschen auf eine reiche Ernte aus, zu der drei Wege führen: Hoffnung auf eine reichhaltige Ernte, Arbeit für das Wachstum und Gedeihen der Pflanzen sowie Ehrfurcht und Hilfsbereitschaft im Zusammenleben mit den Mitmenschen.

Dass Novruz in der aserbaidschanischen Gesellschaft seinen festen Platz hat, zeigt sich in den gemeinschaftlichen und ausgedehnten Vorarbeiten lange vor Beginn des Festes. Zahlreiche Volkslieder erzählen von Menschen, die während der Novruz-Vorbereitungen ihre Heime säubern und herrichten, sich neu einkleiden, Vorräte für das Festessen bereitstellen und so eine festliche Stimmung in ihren Häusern schaffen. Ein wichtiger Teil der Novruzvorbereitungen besteht im Zubereiten der Festspeisen, vor allem der zahlreichen Süssigkeiten. Ganz essentiell gehört zu den Bräuchen und Traditionen des Novruzfestes das harmonische, friedliche und hilfsbereite Miteinander der Menschen. Zu Novruz sollen Streitigkeiten beigelegt werden, damit das beginnende Jahr nicht belastet wird.

Gastfreundschaft und Respekt, auch gegenüber Fremden, und Mitgefühl mit den Bedürftigen sind die wichtigsten Aspekte des Festes. Gemäss den Traditionen sollen die Gäste die besten Zimmer des Hauses und die Zuflucht Suchenden das fruchtbarste Land erhalten.

Während des Festes reicht man sich gegenseitig Tabletts, sogenannte Chontscha, die mit den zubereiteten Süssigkeiten, Früchten und Geschenken gefüllt und mit Sämäni verziert sind. Sämäni ist Weizenkeimgras, was als das wichtigste Sinnbild des Festes für Fruchtbarkeit steht. Die Keimlinge werden drei Wochen vor dem Fest auf flachen Tellern angesetzt und das gewachsene Semäni verziert dann die Festtafel sowie die Chontschas.

Chontscha

In den Höfen und auf den Strassen wird Feuerholz aufgeschichtet. Sobald die Nacht hineinbricht, springen in den Höfen und auf der Strasse überall Menschen sieben Mal über das Feuer und rufen dabei: „Alles Schwere, alles Kranke soll im Feuer brennen!.“ Dies bezweckt, den alten Ballast über dem Feuer abzuwerfen, um das neue Jahr befreit beginnen zu können. Weiterhin legen Kinder und Jugendliche einen Hut vor Hausertüren, klopfen an und verstecken sich. Die Bewohner des jeweiligen Hauses füllen die Hüte mit Geschenken wie Süssigkeiten und Obst auf. Diese Traditionen fördern den Sinn für Eintracht und gute Nachbarschaft und mahnen, vorhandenen Reichtum mit anderen zu teilen.

In den Höfen und auf den Strassen wird Feuerholz aufgeschichtet

Die Altstadt Bakus gleicht an den Novruztagen einer Bühne für Musiker, in Trachten gekleidete Tänzer, Akrobaten und Ringkämpfer. Ausserdem bereiten die Frauen in den Strassen und auf den Plätzen Brotfladen und gefüllte Teigtaschen zu, während die Männer frisches Lamm und Geflügel über offenem Feuer braten.

Novruz ist das Fest des Neubeginns und des Einklangs der Menschen mit der Natur. Die Menschen feiern an diesem Tag das Land, das sie ernährt und sind angehalten, es mit Sorgfalt und Respekt zu behandeln. Heute ist aus ethnographischer Sicht Novruz eine nationale Reflexion des spirituellen Lebens des aserbaidschanischen Volkes. Es ist der Feiertag des ganzen Volkes, das Fest, welches Glück und Segen bringt, erfüllte Träume wie auch Fülle und Wohlstand gewährt, wenn sich die Menschen untereinander und gegenüber der Natur würdig erweisen.

Dr. Azad NÄBIYEV

Philologe und Korrespondierendes Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Aserbaidschans

 

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