In einem grün gestrichenen vierstöckigen Gebäude am Busbahnhof haben Rosa Huseynowa und ihre Kinder Schutz gefunden. „Bevor ich hierher ins Frauenhaus kam, dachte ich, es gibt keine Güte in diesem Leben“, sagt die 38-Jährige. Vor einem Jahr entkam sie einer Ehe, in der Schläge üblich waren. „Seit wir das hinter uns haben, lerne ich, Freude zu empfinden und wieder zu lachen.“ Geführt wird das Haus von der 66-jährigen Mehriban Zeynalova, die mehr will, als Hilfe Suchenden ein Dach über dem Kopf zu geben. „Allein hätte ich nie eine eigene Identitätskarte bekommen“, sagt Huseynova. „Ausserdem hätte es mein Mann nie erlaubt, die Kinder in einer anderen Schule anzumelden.“
Häusliche Gewalt ist nach Schätzungen für fünf Prozent aller Verbrechen in Aserbaidschan verantwortlich, und die Zahl der Frauenmorde steigt. Da das Thema tendenziell verschwiegen wird, bleibt das Ausmass der Übergriffe im Dunkeln. „Wird eine Frau geschlagen, erwartet man von ihr, dass sie nicht darüber spricht. Was in der Familie passiert, geht niemanden etwas an“, erzählt Mehriban Zeynalova. Häufig fehle der Ort, an den Frauen flüchten können, obwohl es seit 2010 ein Gesetz gäbe, dass die Einrichtung staatlich geführter Frauenhäuser vorschreibt. Nur passiere das zu selten, räumt das Staatliche Komitee für Familie, Frauen und Kinder in Baku offen ein. Dreizehn Frauenhäuser existieren landesweit, betrieben zumeist von Hilfsorganisationen, doch genügen sie in der Regel kaum höheren Standards.
Fünfmal umgezogen
Zu Zeynalovas Haus gehören ein Garten und mit Wänden voller Comic-Figuren geschmückte Spielzimmer. Im Moment leben dort sechzig Frauen mit ihren Kindern. Küche und Klassenzimmer befinden sich im Erdgeschoss, Büros für Sozialarbeiter und Rechtsberater im Stockwerk darüber. Die Schlafräume liegen im zweiten Obergeschoss, der Dachboden wurde in einen Raum zum Spielen verwandelt. Fünfmal ist Zeynalova bislang mit ihrem Frauenhaus umgezogen. Als 2015 in Aserbaidschan die ausländische Finanzierung von Hilfsverbänden und anderen Organisationen beschränkt wurde, stand der Bestand ihrer Einrichtung auf dem Spiel. Um nicht schliessen zu müssen, lieh sich Zeynalova Geld. Sie kaufte Land und baute die ersten beiden Stockwerke aus. Dann stellte sie einen Hilferuf auf ihre Facebook-Seite. „Jemand brachte Mauersteine, jemand anderes Sand und Zement, der nächste Holz“, erzählt sie. „Ich verkaufte mein Auto und ein paar andere Sachen, um die Handwerker zu bezahlen.“ Im Herbst 2020 war die Unterkunft für Frauen in Not bezugsfertig. Heute bezahlt die Internationale Organisation für Migration das Gehalt der Angestellten, während Zeynalova weiter um Spenden für laufende Rechnungen bittet. Auch setzt sie ihre Pension und das Gehalt ein, das sie als Vorsitzende der Aserbaidschanischen Stiftung gegen Menschenhandel erhält.
Selbst war sie sieben Jahre lang obdachlos, hat zwei davon auf der Strasse verbracht mit zwei Kindern im Alter von sechs und sieben Jahren. Sie verliess ihren gewalttätigen Mann und verlor Geld durch Finanzbetrug. Als der Freund starb, bei dem sie untergekommen war, ging auch noch das Dach über dem Kopf verloren. „Danach wohnten wir bei einem anderen Freund, doch liess der uns immer nur dann ins Haus, wenn es passte. Wir warteten häufig draussen in der Kälte, und meine Tochter fragte, ob wir je unser eigenes Zuhause haben würden.“
Irgendwann schliefen sie in den Innenhöfen von Hotels oder den Eingängen grösserer Wohnblöcke. Baku, das am Kaspischen Meer liegt und vom eisigen Nordwind Khazri gestreift wird, ist im Winter eine eiskalte Stadt. „Einmal, als wir wieder ein provisorisches Obdach suchten, war der Wind so stark, dass ich die Kinder umarmte und laut aufheulte“, berichtet Zeynalova. „Es waren schreckliche Zeiten.“ Tochter Elnura, heute 33, kennt noch alle Hauseingänge, in denen sie damals hockten, oder die Bänke, auf denen sie schliefen. „Einmal lud uns ein Mann ein, die Nacht in seinem Haus zu verbringen, aber meine Mutter hatte Angst um uns. Ich wäre damals fast vor Hunger zusammengebrochen.“
Der Mann schlug den Sohn
1998 wurde Zeynalova von einer Frauenrechtsorganisation ein Job als Projektmanagerin angeboten, bei dem es um häusliche Gewalt ging. Sie konnte mit ihrem Sohn Khalid in deren Büro schlafen, während Elnura zur Grossmutter in Ganja kam, 300 Kilometer westlich von Baku. „Sie stellten Stühle zusammen und schliefen darauf, bis meine Mutter ihr erstes Gehalt bekam und Klappmatratzen kaufte“, erzählt sie. Vier Jahre lang habe sie ihre Mutter nicht gesehen, bis die 2002 genug für eine Wohnung gespart hatte und Elnura wieder zu sich nehmen konnte, die heute sagt: „Dass wir unterkamen, war für mich mehr, als eine Wohnung zu haben. Meine Mutter hatte nicht nur wieder Tritt gefasst. Sie konnte auch anderen helfen. Obwohl sie kämpfen musste und sich alles allein erarbeitet hat, bewahrte sie stets den Sinn für Menschlichkeit.“
Elnura kann das beurteilen, sie arbeitet heute als Rechtsberaterin für das Frauenhaus und kennt das Schicksal derer, die dort Zuflucht suchen, wie die 44-jährige Almaz Machmudova. Mehr als 20 Jahre lang wurde sie durch ihren Mann beleidigt und misshandelt. Als er eines Tages nach einer Messerstecherei verhaftet wurde, nutzte sie die Chance, ihn zu verlassen und die Kinder mitzunehmen. „Einmal hat mein Mann den jüngsten Sohn Aydin so geschlagen, dass sein Kinn gebrochen war. Das wurde zwar behandelt, doch nötig war eine teure Operation. Wäre die nicht erfolgt, hätte er mit entstelltem Gesicht aufwachsen müssen. Das Frauenhaus fand einen guten Arzt und trug die Kosten“, erzählt Almaz. Das dadurch entstehende Vertrauen wächst noch, wenn die Frauen dabei unterstützt werden, Arbeit zu finden. Wie die 30-jährige Afsana Hasanova, die in einem Lebensmittelgeschäft ein Auskommen fand. „Als ich ins Frauenhaus kam“, sagt sie, „war mein Geist ein leeres Blatt Papier. Hier lernte ich, wieder etwas darauf zu schreiben.“
Ismayil Fataliyev ist Multimedia-Journalist in Baku, der für eine couragierte Zivilgesellschaft in seinem Land eintritt.
Übersetzung: Carola Torti (freitag.de)
The Guardian