Zu den ganz besonderen Vermächtnissen Karabachs gehört die Dichtkunst.
Bei der Betrachtung der Kultur eines Landes gerät insbesondere die Folklore in den Fokus, denn die mündliche Überlieferung geht der verschriftlichten stets voraus und legt somit das Fundament für ihre weitere Entwicklung.
Die Volksdichtung Karabachs ist wie die gesamte aserbaidschanische Literaturgeschichte sehr vielseitig und bietet einen großen Reichtum an Gattungen, Formen, Bedeutungen und Sujets. Die Karabacher Dichtkunst ist eng mit der hiesigen Natur, der Schönheit und Vielfalt der regionalen Landschaft verwoben.
Neben einer großen thematischen Vielfalt, einer kraftvollen, bildreichen und tief vom regionalen Kolorit durchtränkten Sprache, zeichnet sich die Literatur Karabachs vor allem durch eine schier grenzenlose Liebe zur Region aus. Dem Gebiet sowie dessen kulturellem Zentrum Schuscha sind hunderte literarische Werke gewidmet, die allein in der zweibändigen Sammlung „Die Lieder von Schuscha” [„Schuscha näghmäläri”] über 1.500 Seiten füllen.
Wie der russische Meister der Literaturkritiker Vissarion Belinskij einst formulierte, sei „unter ‚Literatur‘ […] das Bewusstsein eines Volkes zu verstehen, das sich historisch in Form mündlicher Dichtung manifestiert“. Karabach wurden seitens der aserbaidschanischen Folklore solch ebenso kurze wie aussagekräftige Verse (Bayati – silbenzählende Vierzeiler) gewidmet wie die folgenden:
„Karabach, meine Heimat, Schäki, Schirvan, Karabach!
Wird auch die ganze Welt zum Paradies,
unvergessen bleibt Karabach!”
Dabei sind Bayati nur eine der vielen Formen der Karabacher und aserbaidschanischen Folklore, die sich aus einer Vielzahl von Wiegenliedern, Märchen, Legenden, epischen Erzählungen (Dastan), Sprichwörtern, Redensarten und Anekdoten konstituiert. Die Dichtkunst Karabachs entfaltete sich über viele Jahrhunderte und führte zur Entstehung einer ausgeprägten literarischen und künstlerischen Landschaft.
Ein besonderer Stellenwert kommt dabei der Aschiq-Dichtung zu, die von Volksdichtern in Form von Geschichten und Liedern vorgetragen wird. Sechzehn Zirkel von Aschugen (Bänkelsängern/Troubadouren) werden in Aserbaidschan unterschieden, darunter auch der Aschiq-Zirkel von Karabach, zu denen solche großen Meister wie Sari Aschiq, Gurbani, Lälä, Aschiq Valeh, Aschiq Sämäd (Valehs Lehrer), Aschiq Mähammäd (Valehs Vater), Abbas Tufarqanli, Miskin Abdal und Aschiq Päri gehörten.
Die Bekanntheit der Karabacher Aschiq-Sänger erstreckte sich weit über die Grenzen Karabachs und Aserbaidschans. Davon zeugen ihre poetischen Wettstreite (Deyischmä) gegen Aschiq-Sänger anderer Regionen und Länder. So trat der Karabacher Dichter Valeh in den Wettstreit mit den Volkssängern Süleyman aus Nachitschevan, Mäsum Äfendi aus Schirvan, Mahmud aus Ärdebil, Feyruz aus der Türkei und Zärnigar aus Därbänd.
Ihre große Popularität spiegelt sich auch in der Tatsache wider, dass diese beliebten Geschichteerzähler bald selbst zum Gegenstand von Geschichten, wie „Sari Aschiq und Yachschi”, „Qurbani”, „Abbas und Gülgäz”, „Valeh und Zarnigar”, wurden und ihre Nachfolger sie besangen. Die Verehrung von Aschiq-Sängern in Karabach reicht sogar so weit, dass die Gräber von Qurbani, Lälä und Sari Aschiq, die sich in den Bezirken Dschäbrayil, Füzuli und Zängilan befinden, zu regelrechten Pilgerorten geworden sind.
Auch das Genre der Dastan- Erzählung nimmt einen wichtigen Platz in der Entwicklung der traditionsreichen Folklore Karabachs und Aserbaidschans ein. Die karabacher Geschichte von „Qatschaq Näbi” ist ein klassisches Beispiel einer Dastan-Erzählung aus dem 19. Jahrhundert. Die Geschehnisse, auf denen sie beruht, ereigneten sich in den Gebirgsgegenden von Karabach und der historischen Region Sangesur mit den Städten Latschin, Qubadli und Gorus. Das Werk ist, wie viele andere Heldenepen der aserbaidschanischen Literatur, ein Musterbeispiel mündlicher Erzählkunst, das auf formvollendete Weise die Aschiq-Dichtung mit dem Erzählgenre vereint. „Das Wort” und „die Waffe” existieren darin nebeneinander und in ständiger Wechselwirkung. Während Worte das Seelenleben der Helden in poetische Strukturen fassen und die Spannung sowie den lyrischen Charakter der Ereignisse zum Ausdruck bringen, symbolisieren Waffen ihre physische Kraft. Die Helden der Epen beherrschen sowohl das eine als auch das andere Kampfmittel auf meisterhafte Weise. Die Berge und das Gefängnis von Schuscha, wo Nabis Gefährtin Hädschar gefangen gehalten wird, repräsentieren unüberwindbare Hindernisse und lassen Nabi in der Vorstellung der Zuhörer und Leser noch kühner und tapferer erscheinen. Selbstverständlich gelingt es Näbi am Ende, seine Geliebte aus der Gefangenschaft zu befreien.
Man kann gewiss davon ausgehen, dass ‚alle Wege, auf denen sich literarische und philosophische Ideen des aserbaidschanischen Volkes kreuzten oder wiederum trennten, stets durch Karabach führten‘. Tatsächlich war Karabach ein wichtiger Ausgangspunkt für die literarische Strömungen des 17. und 18. Jahrhunderts.1 Städte wie Bärdä, Beyläqan und Gändschä, und seit Mitte des 18. Jahrhunderts auch Schuscha, avancierten zu kulturellen Zentren nicht nur Karabachs, sondern ganz Aserbaidschans.
Schuscha wandelte sich recht bald zu einer modernen Stadt, in der die Grundlagen für eine neue poetische Schule gelegt wurden. Eine ganz besondere Rolle spielte dabei der aus der Stadt Qazach stammende Dichter Molla Pänah Vaqif (1717-1797).
Vagifs Ruhm beruht nicht auf seiner Tätigkeit als Staatsmann, obwohl ihm zweifelsohne auch auf diesem Gebiet genügend Verdienste zukommen, sondern auf seinem dichterischen Vermächtnis. Zu seinen besonderen Leistungen gehört die Bereinigung der Literatursprache von arabischen und persischen Einflüssen sowie die Annäherung der Poetik an die Alltagssprache im Bestreben nach einer grösstmöglichen Verschmelzung von Dichtkunst und Lebenspraxis.
Ein anderer prominenter Literat aus Karabach war der in Schuscha geborene Dichter Qasim bäy Zakir (1784-1857), der als Begründer der kritisch-realistischen und satirischen Strömung der aserbaidschanischen Literatur gilt. Sowohl Vaqif als auch Zakir standen in der Tradition der Aschiq-Dichtung des 17. und 18. Jahrhunderts und hatten ihrerseits auch einen bedeutenden Einfluss auf das Schaff en der Karabacher Aschiq-Sänger.
Bemerkenswerterweise blieben die Vertreter der poetischen Schule Karabachs den über Jahrhunderte geprägten Traditionen stets treu. So wird zum Beispiel das literarische Vermächtnis Aserbaidschans in den poetischen Werken Karabacher Dichterinnen des 17. und 19. Jahrhunderts, wie Aschiq Päri, Agabäyim aga, Fatma Chanim Kämine und Churshid Banu Natäavan bewahrt und fortgeschrieben. Das Wirken von Churschid Banu Natävan (1830-1897), der Tochter des letzten Herrschers des Karabach-Chanats – Mehdi Qulu Chan– war jedoch noch viel weitreichender. Neben ihrem literarischen Schaff en widmete sie sich ausgiebig aufklärerischen und sozialen Aufgaben. In Schuscha engagierte sich Natävan in den Bereichen Bildung, Kultur sowie Stadtentwicklung und ließ in der Stadt Wasserleitungen verlegen. Eine der Wasserquellen trägt noch heute ihren Namen. Darüber hinaus organisierte Natävan literarische Gesellschaften (Mädschlis), die sich seit dem 19. Jahrhundert in Schuscha etablierten und zu Schauplätzen poetischer Wettstreite wurden. So traf sich ab 1872 in ihrem Haus die im Jahr 1864 gegründete “Gesellschaft für Freundschaft” („Mädschlisi Üns”), zu der bedeutende Vertreter der Karabacher Intelligenzija gehörten.
Ebenfalls in Schuscha entstand auf Initiative des Universalgelehrten und Dichters Mir Mövsun Nävvab (1829–1918) eine weitere literarische Gesellschaft – „Die Gesellschaft der Vergessenen“ („Mädschlisi-Färamuschan“) –, welche regelmäßig eine ganze Reihe progressiv eingestellter Persönlichkeiten versammelte. Bei diesen Treffen wurden nicht nur Gedichte rezitiert, hier trug man auch die tief in der Kulturtradition Karabachs verwurzelte Mugham-Musik vor und führte tiefgründige Gespräche oder wissenschaftliche Debatten zu Fragen der Geschichte, Literatur, Kunst und Philosophie.
Eine weitere Entwicklung des vorrangig in Schuscha konzentrierten literarischen und kulturellen Lebens der Karabacher Region war die Formierung und Entfaltung der Theaterkunst. Bereits seit 1848, lange vor der ersten professionellen Inszenierung in Baku, existierten in Schuscha Laientheatergruppen, die regelmäßig Schauspiele zur Aufführung brachten. Ab 1882 wurden Theaterinszenierungen in Schuscha zum festen Bestandteil des kulturellen Lebens.
Das Repertoire war vielseitig, doch besonders beliebt waren die Werke des aus Schuscha stammenden Nädschäf bäy Väzirov (1854-1926), der als Begründer der realistischen Tragödie in der aserbaidschanischen Literatur gilt. Seiner Feder entstammen u.a. die Dramen „Fahrradins Leid” („Müsibäti-Fächräddin”), „Aus dem Regen in die Traufe” („Yagischdan tschichdiq yagmura düschdük”), „Helden unserer Zeit” („Pählävani – zämanä”) sowie eine Reihe journalistischer und feuilletonistischer Beiträge.
Ein weiterer herausragender Vertreter aserbaidschanischer Literatur war der ebenfalls aus Schuscha stammende Dramatiker Äbdürrähim Bäy Haqverdiyev (1870-1933). Bereits als Student schrieb er seine erste Komödie „Hadschi Daschdämir“ und verfasste später, den literarischen Traditionen von Mirzä Fätäli Achundov, Nädschäf Bäy Väzirov und Äbdürrahim Bäy Haqverdiyev folgend, die zu Klassikern gewordenen Dramen „Das gebrochene Band“ („Daghilan tifaq“) und „Der unglückliche Jüngling“ („Bächtsiz dschavan“). Neben Dramen verfasste er auch Erzählungen und wissenschaftliche Artikel.
Der bedeutende aserbaidschanische Literaturwissenschaftler und Kritiker Firidun bey Köchärli (1863-1920) stammte ebenfalls aus Schuscha. In seinen literaturkritischen Arbeiten und Rezensionen, insbesondere in Bezug auf die Werke junger Autoren, stellte er stets hohe Ansprüche an die Klarheit der aserbaidschanischen Literatursprache. Zu seinen wichtigsten Arbeiten gehört das umfassende literaturgeschichtliche Werk „Die Literatur der aserbaidschanischen Tataren” (zarische Bezeichnung für Aserbaidschaner im 19. Jh. – Anm. d. Ü.).
Mit der Stadt Schuscha ist des Weiteren das Leben des Karabacher Literaten Süleyman Sani Achundov (1875-1939) verbunden, dessen „Schauergeschichten” sich nach wie vor großer Popularität erfreuen.
Auch der Autor Yusif Väzir Tschämänzäminli (1887-1943), der zu den talentiertesten Vertretern der literarischen Landschaft Karabachs gehörte, wurde in Schuscha geboren. Seine Kindheit und Jugend verbrachte Tschämänzäminli in Schuscha, später schrieb er mehr über seine Heimatstadt als jeder andere von hier stammende Autor. Das Schicksal verschlug ihn an viele weit entfernte Orte, darunter Aschchabad, Kiew und Paris, doch seine Heimat hatte er nie vergessen können. So finden sich in seinen Romanen „Zwanzig Jahre meines Lebens” und „Das Heft eines Jünglings” derart detaillierte Beschreibungen von Schuscha der Jahrhundert- wende, dass diese Texte durchaus als ethnographische Quellen zur Erforschung des Lebens und der Gepflogenheiten der Bewohner Karabachs dienen könnten. Eine besondere Stellung im Gesamtwerk von Tschämänzäminli nehmen die Romane „Die Studenten”, „Paris”, „Im Blut” und „Jungfernbrunnen” ein. Der Roman „Im Blut” behandelt die Geschichte des Karabacher Chanats, insbesondere das Leben von Ibrahim Chalil Chan Javanschir und die historischen Ereignisse an der Wende zum 20. Jahrhundert. Mit seinem Werk gilt Tschämänzäminli als der Begründer des modernen historischen Romans in der aserbaidschanischen Literatur.
Auch im 20. Jahrhundert brachte Karabach eine ganze Reihe talentierter und herausragender Persönlichkeiten hervor, die einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der aserbaidschanischen Literatur, Musik, Kunst und Wissenschaft, kurz – zur aserbaidschanischen Nationalkultur leisteten. Die über Jahrhunderte gewachsenen ethnokulturellen, literarischen und ästhetischen Traditionen ihrer Heimat prägten das Schaffen der Söhne und Töchter Karabachs, und ihr Werk wurde zum untrennbaren Bestandteil des aserbaidschanischen Kulturerbes.
Dr. phil. Sädi NURIYEV
Endnotes
Karabach. Essays zur Geschichte und Kultur, Baku, 2004.