Ethno-psychologisches Porträt der Aserbaidschanerinnen und Aserbaidschaner

Baku, Aserbaidschan

Die Bildung des Charakters des Volkes beeinflussen geografische, soziale und wirtschaftliche Faktoren, die Besonderheiten der historischen Entwicklung sowie wirtschaftliche und ethnokulturelle Kontakte. Das geistig-psychologische Bild der Aserbaidschaner, wie bei jedem anderen Volk, wurde unter dem Einfluss vergangener Erfahrungen und neuer Trends formiert.

Aserbaidschan gehört zu den ältesten Siedlungsgebieten der Menschheit. Das belegen zahlreiche archäologische Materialien: der sechshunderttausend Jahre alte Unterkiefer eines Mannes der Altsteinzeit (Azykhantrop) aus der Höhle Azikh im aserbaidschanischen Gebiet Karabach ist ein überzeugender Beweis davon. Aserbaidschan ist auch ein Land mit einer der ältesten Kulturen der Welt. Dass hier viertausend Jahre lang Hochkulturen existierten, wurde wissenschaftlich belegt. Es gibt interessante Fakten über die ethnokulturellen Verbindungen zwischen den alten Ägyptern und der alten Bevölkerung des Landes im altägyptischen „Totenbuch“, wo immer wieder erwähnt wird: „Bakhau … ein grosser Berg, über dem der Himmel steht“. Im Kapitel CLXII des Buches wird gesprochen vom „Berg Bakhai der aufgehenden Sonne“. Die Etymologie dieses Namens deutet laut dem englischen Wissenschaftler Petri Flinders darauf hin, dass dieser Name mit dem Wort „Baka“ – Morgenröte verbunden werden könne. Die Hauptstadt Aserbaidschans Baku liegt am östlichen Fuss des Kaukasus und entspricht vollständig dieser Beschreibung. Im Territorium Aserbaidschans wurden auch zahlreiche Figuren, Geschirr und Alltagsinventar bei archäologischen Ausgrabungen gefunden, die aus dem alten Mesopotamien stammen und zur sumerisch-akkadisch-babylonischen Kultur gehören und damit die alte Verbindung Aserbaidschans mit dieser Region beweisen. Die Funde, die von amerikanischen Archäologen im iranischen Aserbaidschan, in der Nähe des Dorfs Hasanlu entdeckt wurden, sprechen von einer entwickelten Kultur des Landes im ersten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung.

Viele berühmte europäische Reisende, Wissenschaftler und Schriftsteller vergangener Jahrhunderte lobten die Aserbaidschaner, ihre moralischen Eigenschaften und eigenartige Kultur. Nachdem Anfang des 19. Jahrhunderts Aserbaidschan zwischen dem Iran und dem Russischen Reich geteilt wurde, bezeichnete man in der russischen Öffentlichkeit die Aserbaidschaner als „Tataren“, wie alle anderen Muslime Russlands, unabhängig von ihrer Herkunft und Sprache. Der russische Schriftsteller Alexander Bestuschew (1797-1837), der unter dem Pseudonym A. Marlinski bekannt wurde, notierte 1831: „Die Tataren (Aserbaidschaner – E.K.) lieben mich sehr dafür, dass ich ihre Bräuche nicht scheue und ihre Sprache spreche“. Er bemerkte auch, die aserbaidschanische Sprache „unterscheidet sich nicht sehr vom Türkischen, und mit ihm, wie mit der französischen Sprache in Europa, kann man ganz Asien von einem Ende zum anderen bereisen“. Die Zeitgenossen von Marlinski nannten die Stadt Derbent „Tatarisches (Aserbaidschanisches – E.K.) Athen“, und das ist kein Zufall: Derbent war schon immer eines der historischen Zentren der aserbaidschanischen Kultur. Von grossem Interesse sind auch die Aussagen des berühmten französischen Geographen und Reisenden Elise Reclus (1830-1905), der die Aserbaidschaner mit folgender Aussage charakterisierte: „Die Tataren (Aserbaidschaner – E.K.) sind in mancher Hinsicht die Zivilisatoren des Kaukasus, und ihre Sprache – die Eigensprache Aserbaidschans – dient den wechselseitigen Beziehungen zwischen den verschiedenen Völkern des Kaukasus… Wunderbares Merkmal der muslimischen Bevölkerung Transkaukasiens ist ihre enorme Toleranz“. Die aserbaidschanische Sprache dient seit vielen Jahrhunderten als Vermittler zwischen den Völkern des Kaukasus. Viele Autoren des 19. Jahrhunderts bemerkten „grosse Annehmlichkeit und Musikalität“ dieser Sprache und ihre Popularität im Osten. „Ich lerne jetzt Tatarisch (Aserbaidschanisch)“, schrieb der russische Dichter Michail Lermontow während seiner Verbannungszeit im Kaukasus, „es ist in Asien genau so notwendig wie Französisch in Europa“. Die ethnogenetische Verwandtschaft der Aserbaidschaner mit den Völkern Irans, des Kaukasus und den turksprachigen Völkern drückt sich in ihren Traditionen aus – in geistiger und materieller Kultur. Gleichzeitig bilden die Aserbaidschaner ein eigenständiges Volk mit spezifischen Merkmalen des nationalen Charakters, einer reichen geistigen Welt sowie einer eigenen ethnokulturellen und ethnolinguistischen Einheit. Die Wurzeln des Nationalgeistes der Aserbaidschaner müssen in den Besonderheiten des mythologischen Denkens, in traditionellen Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit, empirischem Wissen, Ritualen, Bräuchen, den von der Zarathustra-Lehre übriggebliebenen alltäglichen Traditionen und ethischen Normen des historischen Islam gesucht werden.

Die Aserbaidschaner schätzten Jahrhunderte lang solche moralische Eigenschaften wie Freundlichkeit, Wahrhaftigkeit, Toleranz, Patriotismus, Mut, Fleiss, Pflichtbewusstsein, Höflichkeit, Bescheidenheit und Empathie sehr hoch. Die Quellen dieser Eigenschaften, die tief in der Natur der Aserbaidschaner verwurzelt sind, liegen wieder in den Kulturen des alten Zoroastrismus und des späteren historischen Islam. Für die Aserbaidschaner sind auch solche Merkmale wichtig, wie Respekt vor Älteren, Gastfreundschaft, gegenseitige Hilfeleistung, Verehrung der Frau-Mutter, Männlichkeit, Ehre und Würde, Familienkult, sexuelle Enthaltsamkeit besonders bei den Frauen, eheliche Treue. Ein aserbaidschanisches Sprichwort lautet: „Arvad papaq deyil ki, başdan başa qoyula“. Das hat folgende Bedeutung: “Die Frau ist keine Mütze, die man von einem Kopf abnehmen und auf den anderen setzen kann“. Die Verzierung aserbaidschanischer Teppiche ist ein ziemlich stabiles Element und ein Indikator der reichen immateriellen Kultur, der Weltanschauung des Volkes. Die Teppiche spielen immer noch eine sehr wichtige Rolle nicht nur im materiellen, sondern auch im geistigen Leben. So symbolisieren die roten Teppiche die Lebensfreude. Das gesellschaftliche Leben der Aserbaidschaner war immer von ihren Traditionen und Gewohnheiten stark geprägt; die Gastfreundschaft, Akzeptanz des Fremden und Gerechtigkeit wurden von klassischen Dichtern besungen und von Reisenden beschrieben, sie widerspiegelten sich in der Folklore, insbesondere in Sprichwörtern und Redewendungen wie zum Beispiel: „Qonaq evin gülüdür“ (der Gast ist die Blume des Hauses).

Heute wird der alte Brauch der Gastfreundschaft verändert, nimmt neue Formen und soziale Funktionen an. Stabiler bleibt dieser Brauch auf dem Lande, wo wie zuvor das beste Zimmer in jedem Haus für die Gäste vorbehalten wird. In der Vergangenheit brachten die Ältesten die Geschenke für die hochgestellten Gäste, und am Hauseingang wurden die Teppiche unter deren Füsse gelegt. Über die Ankunft der verehrten Gäste benachrichtigte man die ganze Umgebung. Als ein gutes Beispiel für aserbaidschanische Gastfreundschaft können Reiseaufzeichnungen eines englischen Missionars des 16. Jahrhunderts, Anthony Jenkinson, dienen. Zu dessen Ehren veranstaltete der Bejlerbeji (Ortsvorsteher) von Schamakhi einen grossartigen Empfang, wo 290 Gerichte serviert wurden. Bemerkenswert ist auch, dass es in der Vergangenheit in Aserbaidschan einen Beamten – Mehmandar gab, um die besonderen Gäste zu treffen. Darüber berichtete bereits im 17. Jahrhundert der türkische Reisende Evliya Celebi. Einer der wichtigsten Aspekte der Mentalität der Aserbaidschaner sind die Fremdenliebe, Akzeptanz der Vertreter der anderen Völker, deren Kultur und Traditionen. Bezeichnend in dieser Hinsicht ist der Brauch der Blutsbrüderschaft aus der Vergangenheit. Dafür ritzten zwei Menschen ihre Hände, mischten ihr Blut, tauschten als Zeichen der Treue zueinander ihre Waffen und galten fortan als Brüder. Wenn die Beziehung zwischen dem Gastgeber und dem Gast zunächst auch einen zufälligen Charakter hatte, änderte sich das, wenn sie zu Blutsbrüdern wurden. Wenn sie auch verschiedenen Stämmen oder Völkern angehörten, sich sogar zu verschiedenem Glauben bekannten, waren sie nun durch die starken Bande der Freundschaft und Treue verbunden und halfen einander in kritischen Situationen. Die Rituale der Blutsbrüderschaft fanden nicht selten zwischen einheimischen Männern und russischen Siedlern statt, vor allem christlichen Sektanten auf dem Lande. Der Forscher des Lebens der kaukasischen Juden, I. Sch. Anisimow, berichtete bereits 1888: „Nicht selten tritt ein Bergjude in Freundschaf mit einem Muslim und nach einem festen Kuss wird er für den Rest seines Lebens dessen Bruder. Dabei tauschen sie ihre Waffen aus und geben sich gegenseitig ein ‚heiliges Gelübde‘, notfalls kein Leben zu verschonen, um einander zu retten“.

Bei den Aserbaidschanern früherer Jahrhunderte hatten die Ältesten der Gemeinden die Kompetenz in einer sehr breiten Palette sozialer Themen. Auf Grundlage des Schiedsrechts und der Scharia schlichteten sie auf Nachbarschafts- und Dorfversammlungen die Streitigkeiten innerhalb der Stämme und zwischen den Stämmen und führten das Ritual der Namensgebung der Kinder durch. Die Eltern bemühten sich darum, dass ihre Kinder möglichst früh ein bestimmtes Handwerk beherrschten. Ein anderer wichtiger Brauch der Aserbaidschaner ist der Respekt den Eltern und älteren Menschen gegenüber, was den Kindern von Anfang an eingeflösst wird. Noch der römische Geograph Strabo wies darauf hin, dass die kaukasischen Albanen (Die kaukasischen Albanen hatten ihren Staat im Territorium der heutigen Republik Aserbaidschan. Dieser Staat, bezeichnet als Kaukasisches Albania, ging im 11. Jahrhundert unter und dessen Territorium wurde dem Territorium des iranischen Aserbaidschans angeschlossen, und seitdem heisst alles zusammen Aserbaidschan) „das Alter nicht nur ihrer Eltern, sondern auch der Fremden respektieren“. Von früher Kindheit an beachteten die Kinder streng die Normen der Höflichkeit während der Kommunikation mit Älteren. In Anwesenheit älterer Menschen durften die jungen Leute ihre Stimme nicht erheben und bei der Begegnung mussten sie die Älteren zuerst begrüssen.

Einer der edlen Bräuche Aserbaidschans ist die gegenseitige Unterstützung (iməcilik, əvrəz) unter Dorfbewohnern, Verwandten oder Nachbarn, die sich auf alle Lebensbereiche – Ackerbau und Viehzucht, Wasserversorgung, Bau von Strassen und Brücken, Feier und Trauer usw. erstreckt. Fast alle aufgezählten Normen haben einen allgemeinen Charakter. Aber bei jedem Volk tauchen sie in besonderer Weise auf und bei weitem nicht im gleichen Grad. Unter modernen Bedingungen der Globalisierung auf der ganzen Welt verstärken sich das nationale Selbstbewusstsein und die Tendenzen ethnischer Identität. Und in Aserbaidschan nimmt die Wiederbelebung vieler Merkmale der eigenständigen Kultur zu, die in den Jahren der Sowjetmacht in Vergessenheit geraten waren. Die heutige Aufgabe ist, die guten Traditionen und Tugenden des aserbaidschanischen Volkes zu erhalten und der jungen Generation beizubringen.

Emil Karimow, Doktor für Geschichtswissenschaften

IRS

 

Literatur:

  1. И.И.Мещанинов. Египет и Кавказ. // Известия Общества обследования и изучения Азербайджана“, No4. Баку, 1927, с.37 (Речь идет о докладе на заседании Ленинград-ского отделения Общества обследования и изучения Азербайджана, посвященном научному анализу статьи Петри Флиндерса „Origin of the Deand“ в журнале Ancient Egypt, 1926, June, Part II, p. 41-45)
  2. А.Марлинский. Полное собрание сочинений, ч.VI. Спб, 1837, с. 179-180.
  3. А.Марлинский, там же, ч. II, с. 186.
  4. И.Борисов. Азербайджан в творчестве писателя декабриста А.Марлинского. Газ. „Бакинский рабочий“, 11 февраля 1950.
  5. Элизе Реклю. Земля и люди, т. VI. Спб, 1898, с.195.
  6. Обозрение Российских владений за Кавказом. Спб, 1836, ч.III, с. 275.
  7. Г.А.Гулиев. О традиционном гостеприимстве азербайджанцев. // Известия АН Азерб, ССР, серия истории, философии и права No1, 1987, стр. 66; см. также: Путешественники об Азербайджане, т.1, Баку, 1966, с.95.
  8. З.И.Ямпольский. О древнейших исторических свидетельствах обычая побратимства кровью и оружием на Кавказе // Известия Азерб. филиала АН СССР, No 1-2. Баку, 1944, с.91.
  9. И.Ш.Анисимов. Кавказские евреи-горцы. // Сборник материалов по этнографии изд. при Дашковском музее. М. 1888.
  10. Латышев В.В. Известия древних писателей греческих и латинских о Скифии и Кавказе, т.1. Спб. 1890, с.143.

 

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