Ethnische Vielfalt in Aserbaidschan

Khinalig, Aserbaidschan. Foto: Andrey Senyushkin

Den Schlusspunkt dieser Liste bilden das Russische Reich und das Sowjetimperium, welche die Geschichte der Völker Kaukasiens mehr als 200 Jahre prägten. Die administrative Aufteilung der Region nahm keine Rücksicht auf ethnische, konfessionelle und geografische Gegebenheiten – Siedlungsgemeinschaften wurden willkürlich zusammengelegt oder getrennt. Dieses Schicksal teilten auch die Bewohner des heutigen Aserbaidschan.

Vor rund drei Jahrtausenden, ca. von 900 – 700 v. Chr., war das Königreich der Mannäer das erste bedeutende Reich in der Traditionslinie aserbaidschanischer Staatlichkeit. Ihm folgten u.a. Medien, Kaukasisch Albanien (4. Jh. v. Chr.- 9. Jh.), Schirvan, Arran, der Staat der Atabeken, die Imperien der Qara Qoyunlu und Agh Qoyunlu, die Dynastien der Eldeniz, Elchaniden und der frühen Safawiden. In der zweiten Hälfte des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts existierten hier 20 unabhängige Chanate. Bis zum ersten Drittel des 19. Jahrhunderts wurde das Land dann zwischen dem Russischen Reich und Persien aufgeteilt. Wie auch im alten Europa trugen die verschiedenen Reiche die Namen herrschender Stämme oder von Dynastien und nicht ethnische Bezeichnungen im Sinne moderner Nationalstaaten. Erst 1918, nach dem Zusammenbruch des Russischen Reiches, wurde im nördlichen Teil des aserbaidschanischen Siedlungsgebietes der erste säkulare Staat des muslimischen Orients ausgerufen – die unabhängige Aserbaidschanische Demokratische Republik (ADR). Schon im April 1920, mit dem Einmarsch der Roten Armee in Baku, verlor Aserbaidschan seine Unabhängigkeit wieder und wurde in die 1922 gegründete UdSSR inkorporiert. Seit 1991 ist Aserbaidschan wieder unabhängig und ein souveränes Mitglied der internationalen Staatenfamilie.

Die ethnische Vielfalt Aserbaidschans

Die Republik Aserbaidschan hat heute eine Bevölkerung von über 9 Millionen Menschen. Die zahlenmässig bedeutsamste Volksgruppe des Landes, die Aserbaidschaner, ein überwiegend schiitisch-muslimisches Volk und grösste turksprachige Gemeinschaft in Kaukasien, stellen über 8 Mio. Menschen und damit 90 Prozent der Bevölkerung des Landes. Nach unterschiedlichen Schätzungen gibt es weltweit zwischen 28 und 35 Mio. Aserbaidschaner.1 Davon leben ausserhalb der Republik bis zu 18 Mio. in Iran, 2 Mio. in Russland, 1 Mio. in den USA, 1 Mio. im Irak, 500.000 in Georgien,

250.000 in Deutschland, 110.000 in Kasachstan, 150.000 in Frankreich, 150.000 in der Türkei, 50.000 in Kanada, jeweils 20.000 in Kirgisistan, Schweden, in Grossbritannien und 10.000 in Österreich.

Aserbaidschan war und ist ausserdem die Heimat von etwa 20 ethnischen Minderheiten, die ihre eigenständige Sprache, ihre materiellen und geistigen Kulturgüter bewahren konnten. Dazu zählen:

  • Udinen sind, als einer der 26 lokalen Albaner-Stämme, die Gründer Kaukasisch- Albaniens. Ihr zentrales Siedlungsgebiet liegt in Karabach – einem Gebiet zwischen Kura und Arax. Heute leben ca. 000 Udinen überwiegend im Dorf Nidsch, welches bereits bei antiken griechischen Autoren Erwähnung fi ndet. Die Udinen sind Christen.
  • Krysen (1.000 Personen), Chinalugen (2.000) und Buduchen (1.000) sind ebenfalls Nachkommen der Albaner-Stämme und leben derzeit im Bezirk Sie sind Muslime.
  • Ingilojer (8.000 Personen) sind Nachfahren der Albaner-Stämme aus der Region Zaqatala. Sie folgen sowohl dem Christentum wie auch dem
  • Lezgier sind die Nachkommen des Albaner-Stammes Legs und leben überwiegend im Distrikt Sie sind sunnitische Muslime.
  • Pontos-Griechen (700 Personen) sind die Nachfahren jener Griechen, die schon vor mehr als 500 Jahren in Kaukasien siedelten. Weitere kamen im Zuge der zarischen Kolonisationspolitik im 19. Jh.. Sie sind orthodoxe Christen.
  • Deutsche gründeten im Jahre 1819 zwei Mutterund später weitere Tochterkolonien, die grössten waren Helenendorf (heute Göygöl) und Annenfeld (heute Schämkir). Nach der Deportation der deutschstämmigen Bevölkerung 1941 verblieben nur wenige in Aserbaidschan, einige kamen als Fachkräfte seit den 1960er Jahren vor allem nach Die Gemeinde umfasst heute ca. 1.500 Personen. Sie sind überwiegend evangelische Christen.2
  • Neue Assyrer sind die Nachkommen von Syrern, die im 4. Jahrhundert in die Region kamen und das Christentum im Kaukasien verbreiteten. Es gibt 700 Assyrer in Aserbaidschan, die in den Bezirken Tärtär und Tovuz leben. Sie sind noch immer Christen.
  • „Bergjuden“ (Juhuren) sind seit dem 5. Jahrhundert über Die meisten von ihnen leben seit über 270 Jahren in Krasnaja Sloboda, einer Siedlung nahe der Stadt Quba. Ihre Religion ist das Judentum.
  • Aschkenasische Juden trafen ab Mitte des Jahrhunderts aus Europa ein und leben heute überwiegend in Baku.
  • Russen besiedelten Aserbaidschan seit dem späten Jahrhundert. Ein Jahrhundert später gab es bereits 100 russische Dörfer in Aserbaidschan. Heute leben rund 141.000 Russen im Land. Sie sind überwiegend orthodoxe Christen.
  • Ukrainer kamen im Jahrhundert ins Land und leben vor allem in Baku. Es gibt 29.000 Ukrainer in Aserbaidschan. Sie sind orthodoxe Christen.
  • Weissrussen kamen ebenfalls im Jahrhundert ins Land, von ihnen gibt es heute ca. 15.000. Sie sind Christen.
  • Armenier leben überwiegend im Gebiet Berg-Karabach und in Es gibt ca. 120.000 Armenier auf dem Territorium Aserbaidschans. Sie sind Christen.
  • Tataren sind die Nachkommen von Stämmen, die zusammen mit den Mongolen im 13.-14. Jahrhundert hier eintrafen. Heute leben etwa 30.000 von ihnen im Land, zumeist in Baku. Sie sind sunnitische Muslime.
  • Talyschen gibt es in den Regionen Länkäran, Astara, Lerik, Dschälilabad und Sie sind schiitische Muslime.
  • Kurden leben in Aserbaidschan vor allem in den Bezirken Latschin, Kälbädschär, Zängilan, Tärtär und Qubadli. Sie sind
  • Georgier haben sich vorwiegend in Baku niedergelassen und sind Christen.
  • Awaren und Zachuren wanderten im 17. Jahrhundert wegen Landmangels in ihrer angestammten Heimat Dagestan nach Aserbaidschan Sie sind überwiegend sunnitische Muslime.
  • Taten siedelten ab dem 5. Jahrhundert in Aserbaidschan und leben auf der Halbinsel Abscheron sowie in den Gebieten Schabran und Dävätschi.
  • Mescheten wurden 1944 aus ihrer ursprünglichen Heimat in Georgien bis nach Zentralasien Nach der politischen Rehabilitation im Jahr 1956 liessen sich einige von ihnen in Aserbaidschan nieder. Heute leben 100.000 von ihnen im Land, überwiegend in den Bezirken Saatli und Sabirabad.

Es gibt religiöse Institutionen aller im Land vertretenen Glaubensrichtungen – Islam, Christentum und Judentum. Insgesamt finden sich etwa 1.300 Gotteshäuser in Aserbaidschan. Die meisten davon sind Moscheen, aber es gibt auch christliche Kirchen und Synagogen. Im Jahre 2004 wurde unter der Teilnahme von Papst Johannes Paul 1. eine neue katholische Kirche in Baku eingeweiht.

Daneben existieren zahlreiche religiöse, kulturelle und pädagogische Einrichtungen der ethnischen und religiösen Minderheiten. Sie lehren elementare Grundlagen ihrer Sprachen in den allgemeinbildenden Schulen und besitzen verschiedene Lehrmittel, Lehrpläne, Radio- und Fernsehprogramme in ihren jeweiligen Sprachen. Es existieren staatliche Theater und Laienbühnen und seit 2006 wird über das öffentliche Fernsehen ein spezielles Programm für Minderheiten ausgestrahlt.

1992 wurde ein Dekret des Präsidenten zum „Schutz der Rechte und Freiheiten sowie staatlicher Unterstützung für die Entwicklung von Sprachen und Kultur der ethnischen Minderheiten, einheimischen Völkern und ethnischen Gruppen, die in der Republik Aserbaidschan leben“ verabschiedet. Die Verfassung Aserbaidschans von 1995 garantiert die Gleichheit der Rechte und Freiheiten aller Menschen ungeachtet ihrer Ethnie, Nationalität, Religion, Sprache, Geschlecht, Herkunft, Vermögen sowie ihrer Überzeugungen, Zugehörigkeit zu einer politischen Partei, Gewerkschaft und anderen öffentlichen Organisationen. Es ist verboten, die Rechte und Freiheiten der Bürger auf dieser Grundlage zu beschränken oder zu verwehren.

Ethnische Minderheiten spielen eine aktive Rolle im politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, kulturellen und öffentlichen Leben des Landes. Sie sind in der Regierung, anderen staatliche Stellen und im „Milli Mädschlis“, dem aserbaidschanischen Parlament, vertreten.

Die Republik Aserbaidschan hält sich an die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948. Sie hat die Schlussakte der KSZE in Helsinki 1975 unterzeichnet und übernahm deren zehn grundlegenden Bestimmungen3. Ausserdem wurde das Rahmenübereinkommen zum Schutz ethnischer Minderheiten des Europarats 1995 in Strassburg mitunterzeichnet. 

Literatur:

1 Sela, Avraham: The Continuum. Political Encyclopedia of the Middle East, New York 2002, S. 197; www.joshuaproject.net/ people-clusters.php?peo2=126, abgerufen am 11.03.2013.

2 Zur Geschichte der Deutschen in Aserbaidschan siehe: Auch, Eva-Maria: Öl und Wein am

Kaukasus. Deutsche Forscher, Kolonisten und Unternehmer im vorrevolutionären Aserbaidschan, Wiesbaden 2001.

3 Diese lauten: Souveräne Gleichheit, Achtung der Souveränität innewohnenden Rechte; Enthaltung von der Androhung oder Anwendung von Gewalt; Unverletzlichkeit der Grenzen; territoriale Integrität der Staaten; friedliche Regelung von Streitfällen; Nichteinmischung in innere Angelegenheiten; Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschliesslich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit; Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker; Zusammenarbeit zwischen den Staaten; Erfüllung völkerrechtlicher Verpflichtungen nach Treu und Glauben.

von Dr. Nuridä QULIYEVA, Historikerin

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