Einige Bemerkungen zum Begriff “Kultur” im Aserbaidschanischen

Der Palast der Schirwanschahs, Baku

Im einsprachigen Wörterbuch der aserbaidschanischen Sprache finden wir folgende Definitionen: mädänijjet (arabischer Herkunft) – 1.Gesamtheit aller Leistungen der menschlichen Gesellschaft sowohl auf dem Gebiet der Produktion als auch im gesellschaftlich-geistigen Leben. 2. Das Niveau solcher Leistungen eines Volkes oder einer Klasse in einer bestimmten Epoche […] Das Entwicklungsniveau entweder der wirtschaftlichen oder der geistigen Tätigkeit, wie zum Beispiel: die Kultur der Produktion, die Redekultur usw. 3.Kenntnisreichtum, Kundigkeit, Gebildetheit […] taktvolles Umgehen in der Gesellschaft, Wohlerzogenheit, Artigkeit [1,283].

Wie ersichtlich, verfügt der Begriff “mädänijjet” über eine grosse Verwendungsvielfalt und verknüpft in sich nicht nur die Bedeutungsaspekte und Schattierungen des arabischen “Madaniyya”, sondern auch die Bedeutung vom lateinischen “Cultura” mit seiner ursprünglichen Bedeutung “Landbau” oder “den Boden zum Ackern vorbereiten”. Aber trotz dieser Vielfalt und ungeachtet dessen, dass in den aserbaidschanischen Fach- und Lehrbüchern die Kultur als Synthese der materiellen und geistigen Werte betrachtet und immer wieder ihre drei Typen- materielle, geistige und soziale – hervorgehoben wird [2,13], versteht jeder Aserbaidschaner unter dem Wort “Kultur”, d.h. “mädänijjet”, vor allem die Gesamtheit folgender geistiger Entwicklungsbereiche: GeschichteKunst und Literatur – also die Gesamtheit der Begriffe, die die materielle und geistige Entwicklung der Gesellschaft und des Menschen, ihre gegenseitigen Wechselbeziehungen in historischer Hinsicht darstellen und einschätzen lassen. Dazu kommen noch die reichlichen Sitten und Bräuche, alte Traditionen, die islamischen Werte (seit dem VII. bis VIII. Jahrhundert), die von den Generationen an die Generationen weitergegeben wurden und als unschätzbares Kulturerbe eingeschätzt und verehrt werden. Die Kultur in diesem Sinne, d.h. als geistiges, beinhaltet in sich sowohl die orientalische (selbstverständlich vorwiegend) als auch westliche Elemente (seit dem Anfang des XX. Jahrhunderts – verbunden mit dem Erdölboom), da Aserbaidschan geographisch an der Kreuzung Europas mit Asien liegt.

Der Begriff Kultur- mädänijjet bezieht sich im Aserbaidschanischen auch oft auf verschiedene Gebiete der Landwirtschaft, besonders auf den Ackerbau und die Viehzucht als Hauptbeschäftigungen der Aserbaidschaner, “weil die naturgemäss-geographische Lage seit uralten Zeiten für die Entwicklung der Ackerbaukultur günstige Bedingungen geschaffen hatte und die Viehzucht neben dem Ackerbau die Grundlagen seiner Wirtschaft bildete” [3,425].

Bildung und Ausbildung als “kontinuierliche und sich laufend verändernde Prozesse der Aneignung, Veränderung und Produktion menschlichen Handlungswissens” und Wissenschaft sind in Aserbaidschan ein sehr wichtiger Kulturbereich, auf den in letzter Zeit grosser Wert gelegt wird. Neue Reformen, die seit der Selbständigkeit der Republik Aserbaidschan auf diesem Gebiet durchgeführt werden, sind darauf orientiert, das aserbaidschanische Bildungssystem und die Wissenschaft mit den fortgeschrittenen Bildungssystemen und Wissenschaftsbereichen der Welt zu koppeln. In dieser Hinsicht wird den konzeptuellen Forschungen in den Geisteswissenschaften, besonders den Fragen der regionalen und transkulturellen Prozesse grosse Aufmerksamkeit geschenkt. Sowohl dieser Prozess als auch die Entwicklung der Literatur und Sprache, der Wissenschaft seit den mittelalterlichen Zeiten werden als Kultur der Aufklärung (maarifcilik mädänijjeti) bezeichnet, die schon gegen Ende des XIX. Jahrhunderts zu einem Höhepunkt gelangte.

Weiters versteht man in Aserbaidschan unter dem Begriff “Kultur” die Zivilisation, die in der europäischen Wissenschaft als die dritte Etappe der Menschheitsentwicklung (Wildheit, Barbarei, Zivilisation) bezeichnet wird [4,480].

Ausserdem wird das Wort “mädänjjet” sehr oft als Beiwort (in der Form “mädäni”) mit den Substantiven “adam” (der Mensch), “davranisch” (die Umgangsformen) verwendet, wie zum Beispiel “mädäni adam” (wörtlich: ein kultureller Mensch, ein Mensch von hoher Kultur), das heisst, ein ausgebildeter, wohlerzogener, höflicher Mensch, der nie “schlecht” sein kann, weil er sich die wertvollen Eigenschaften der “Kultur” angeeignet habe. Oder “mädädni davranisch”, “mädäni davranmaq” bedeuten “taktvolles, artiges, höfliches Umgehen”, “mit jemandem taktvoll, höflich, artig umgehen”. Welche Bedeutung dem Wort “mädäni” (kulturell) zukommt, sehen wir in der Wortverbindung “mädäni bitkiler”, das heisst “Kulturpflanzen”, die als Gegensatz zur Wortverbindung “jabani bitkiler”, d.h. “Wildpflanzen” verwendet wird.

In letzter Zeit verwendet man, wenn auch nicht so oft, in der Fachliteratur und manchen Beiträgen neben dem Begriff “mädänijjet” auch “kültür”. In dieser Form wird das lateinische “Cultura” im Türkei-Türkischen gebraucht. Diese Wortverwendung ist aber nicht nur durch den Einfluss des Türkei-Türkischen auf das aserbaidschanische Türkisch als Ergebnis der Annährung beider Völker zu erklären, sondern auch als eine neue Auffassung des Begriffs im neuen aserbaidschanischen Denken.

Vilayet Hajiyev

 

Literatur

Azärbajcan dilinin izahli lügheti. Baki, Elm, 1983, III cild.
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Koul M., Skribner S. Kultura I myschlenye. Moskva, 1977.
Niyazi Mehdi. Tschetin ve dolaschiq durumlarin kulturolojisi. Qärb ve schärq mädäniyyetlerinde virtual örtüyün “kosmoqoniyasi”. Baki, 2001.
Schükürov Aghayar. Kulturologiya. Baki, Elm, 1998.

 

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