Schliesslich strebt jeder Mensch danach, ein wenig in die Zukunft, ins Morgen zu blicken, aber das gelingt in Wirklichkeit auch bei den Wissenschaftlern, Künstlern, Philosophen und Mystikern nur wenigen. Und diese, jeder auf seine Art, sind vereint durch die Gabe der Voraussicht und Vorahnung. Und jeder von ihnen hat seine eigene Vorausbestimmung, seinen eigenen Lebensweg. Einer entdeckt die Gesetze der Quantenmechanik, der andere erfindet alle Arten von Maschinen und baut Städte, der dritte entwickelt harmonische philosophische Konzepte und lebt in der Sphäre der freien Urteilskraft, und der vierte wird geboren, um die Entwicklung einer neuen Richtung in der Malerei zu bestimmen.
Diese Position ist heute gerade am produktivsten: in verschiedenen Erscheinungen eher verbindende Elemente zu sehen, als trennende; Zentripetalkräfte sind jetzt wertvoller als Zentrifugalkräfte, weil die Welt des Konfliktdenkens müde ist. Betrachtet man die aserbaidschanische Malerei aus dieser Perspektive, dann funkelt der Stern von Bährus Kängärli, dem Begründer der aserbaidschanischen realistischen Malerei, hell am Himmel. Für mich sind die wichtigsten Besonderheiten seiner Kunst und Persönlichkeit die Aufklärung, Heimatliebe und der Adel. Das sind die Eckpfeiler seines Charakters. Um dies zu verstehen, muss man sich die Zeit vorstellen, in der der Künstler geboren wurde – Ende des 19. Jahrhunderts.
Die Zeit hat verschiedene Perioden: interessante oder eingefrorene, brodelnde oder farblose, und sie hat noch ihre Höhen und Tiefen. Die Kultur Aserbaidschans Ende des 19. Jahrhunderts prägte das Streben nach dem Westen: das war ein Diktat jener Zeit. Der Erdölboom in Baku brachte Veränderungen in allen Bereichen Aserbaidschans, das öffentliche Bewusstsein wuchs, denn die Zeit drängte. Die aserbaidschanische Mentalität begann, westliche Innovationen zu absorbieren und die östliche Kultur der Wesenheit mit der westlichen Kultur der Persönlichkeit zu synthetisieren. Aserbaidschanische Kunst, Musik, Literatur, Theater und Kultur im Allgemeinen integrieren westliche Stile und Techniken, während sie aber auch ihre jahrhundertealten Traditionen weiter bewahren.
Bährus Kängärli wurde 1892 in Nachtschwan geboren. Sein Vater hatte eine Gymnasialausbildung und war als Sekretär und Übersetzer aus drei Sprachen am Stadtgericht tätig. Als Kind erlitt Bährus ein schweres Schicksal: Nach einer Krankheit verlor er allmählich sein Gehör und musste später trotz seiner Fähigkeiten den Schulbesuch unterbrechen. Schon in jungen Jahren zeichnete und schrieb er gerne die Zeichnungen von Schmerling und Rotter aus der satirischen Zeitschrift „Molla Nasreddin“ ab, die sein Vater ständig abonnierte. Nachdem der kleine Bährus sein Gehör und dadurch auch den Kontakt zu Gleichaltrigen verloren hatte, findet er nun im Zeichnen die einzige Freude und Bedeutung für sein Leben. Von nun ansingen und sprechen Farben in seiner stillen Welt. Das Verwaltungszentrum Transkaukasiens war damals Tiflis, wo man eine professionelle europäische Kunstausbildung erhalten konnte. 1908 überredete Bährus seinen Vater, ihn zum Studium nach Tiflis zu schicken, 1915 schloss er hier erfolgreich seine akademische Ausbildung ab. Und schon 1914 eröffnete er in seiner Heimat Nachtschwan die erste Einzelausstellung, die auf grosse Resonanz stiess. Viele Zeitungen bewunderten den jungen Künstler und sagten ihm eine grosse Zukunft voraus. Die Zeitung „Igbal“ schrieb: „Der junge Künstler (er ist 22 Jahre alt) wird ohne Zweifel zu unserem Stolz. Er schreibt Szenen aus unserem aserbaidschanischen Leben, das ist unsere neue und nationale Malerei“.
1920 organisierte Bährus Kängärli einen öffentlichen Kunstverein in der Stadtschule, wo er Kindern die Grundlagen des Zeichnens und Malens beibringt. 1921 veranstaltete er eine neue grosse Einzelausstellung. Oft organisierte Kängärli die Ausstellungen direkt zu Hause und stellte neben seinen Gemälden auch die Werke der angewandten Kunst aus: Stickereien, Keramiken, Steinskulpturen, und so propagierte er die aserbaidschanische Kunst. Ungesellig, immer schlecht gelaunt, kommunikationsvermeidend aufgrund seiner Taubheit, verwandelte sich der junge Künstler auf seinen Ausstellungen: Er erzählte Kindern und erwachsenen Besuchern begeistert von Kunst, klärte sie auf, weckte Interesse und Liebe für die Heimatkultur.
Während seines kurzen Lebens (1892-1922) schuf Bährus Kängärli mehr als zweitausend Gemälde: Landschaftsdarstellungen, Porträts, Stillleben, Karikaturen, Bühnenbilder und Kostümentwürfe. Als Begründer des Realismus führte er in die aserbaidschanische Malerei stilistische Ausdrucksmittel wie Plastizität der Form, Linien-und Luftperspektiven, Räumlichkeit, Licht-und Schattenmodellierung sowie subtile Tonverhältnisse ein. Stillleben und Selbstporträts existierten vor Kängärli in der aserbaidschanischen Malerei nicht als separates Genre. Die Landschaftsgemälde des Künstlers widerspiegeln dessen grosse Liebe zu seinem Heimatort. Er stellte sogar die Alben mit Ansichten von Architektur- und Naturdenkmälern Nachtschwans zusammen, unter dem Titel „In Erinnerung an Nachtschwan“. Aber am meisten faszinierte ihn die Porträtmalerei: er schuf sehr gerne Selbstbildnisse, malte Porträts seiner Verwandten und Freunde und versuchte da bemerkenswerte Charaktere zu schildern. Ihn interessierte dabei nicht nur das Äussere der gemalten Personen, sondern auch deren innere Welt.
Den Hauptteil seines Schaffens im Zeitraum von 1917 bis 1922 bilden die Porträts der aserbaidschanischen Flüchtlinge aus Armenien: damals gab es viel von ihnen in Nachtschwan. Oft brachte Bährus die Kinder der Flüchtlinge nach Hause, wenn er sie auf der Strasse traf, er ernährte sie und gab ihnen Kleidung sowie Geld, wenn er es hatte. Kängärlis Gemälde zu diesem Thema, die heute im Kunstmuseum R. Mustafajew aufbewahrt werden, sind auf diese Weise entstanden und wurden unter freiem Himmel nach der Natur gemalt.
Bährus war sehr besorgt über den Geisteszustand Tausender Aserbaidschaner, die unter Todesangst ihre Heimatorte in Armenien verlassen mussten. Er schuf weiterhin Porträts der geflüchteten Männer, Frauen, Kinder: psychologisch, hochemotional, in Trachten, aber sehr zurückhaltend und streng in Farbe und Komposition. Er arbeitete und las viel, seine demokratischen Ansichten bildeten sich unter dem Einfluss der neuen aserbaidschanischen Literatur. Zum Freundeskreis seines Vaters gehörten viele Vertreter der neuen aserbaidschanischen Intelligenzia, die aus Nachtschwan stammten. Diesen Intellektuellen folgend, hat auch Bährus Kängärli viel für Bildung und Aufklärung in Nachtschwan getan. Er war der erste aserbaidschanische Künstler, der nach Prinzipien westeuropäischer Kunstmalerei ausgebildet wurde und sich professionell mit realistischer Malerei beschäftigte. Er war sehr jung, wohlwollend, bescheiden, fürsorglich, immer krank, still, verträumt, talentiert, edel, fleissig und liebte seine Heimat sehr. Er wurde nur dreissig, aber er lebte diese Jahre für die aserbaidschanische Kunst. Dafür soll man ihm dankbar sein.
Wir danken dem Staatlichen Kunstmuseum R. Mustafajew für die zur Verfügung gestellten Materialien.
Bahruz Kangarli was the first Azerbaijani artist who was educated in the spirit of West European art and was professionally engaged in realistic art. He was a very young, benevolent, modest, caring, always slightly un well, silent, dreamy, talented, noble and hard-working artist who loved his country very much. He only lived to the age of 30, but he devoted himself to art…
Gülräna GADSCHAR
IRS