Deutschland gilt oft als eines der zuverlässigsten und technisch fortschrittlichsten Gesundheitssysteme der Welt. Alles wirkt sorgfältig organisiert – von der Versicherung über die Diagnostik bis hin zum Zugang zu Ärzt:innen und standardisierten Behandlungsprotokollen. Doch hinter dieser polierten Fassade verbergen sich tiefe strukturelle Spannungen: zunehmende Kommerzialisierung, wachsende Bürokratie, mangelnder digitaler Fortschritt und eine subtile, aber bedeutende Verschiebung im Verhältnis zwischen Arzt und Patient.
Darüber haben wir mit Dr. Orkhan Zamanli, Neurologe und Psychiater am Medizin Campus Bodensee in Friedrichshafen, gesprochen. Er hat über die Jahre in verschiedenen Regionen Deutschlands gearbeitet und kennt die Stärken, Widersprüche und inneren Konflikte des deutschen Gesundheitswesens. In diesem Gespräch erklärt er, wie die Krankenversicherung in Deutschland funktioniert, wer Zugang zu welcher Versorgung hat – und warum die Idee einer „Zwei-Klassen-Medizin“ längst keine Metapher mehr ist, sondern Alltag.
Dr. Zamanli, wie ist die medizinische Versorgung in Deutschland eigentlich aufgebaut? Wie sieht der typische Behandlungsweg aus – und wie hängt das mit der Versicherung zusammen?
Deutschland hat eines der ältesten und am besten strukturierten Gesundheitssysteme der Welt. Es ist klar in zwei Hauptbereiche unterteilt: ambulante und stationäre Versorgung.
Die ambulante Versorgung – also Behandlungen ausserhalb von Krankenhäusern – wird von Hausärzt:innen, Fachärzt:innen und Psychotherapeut:innen übernommen, die meist in eigenen Praxen oder medizinischen Versorgungszentren arbeiten. Patient:innen können direkt zu diesen Ärzt:innen gehen – ohne vorherige Überweisung.
Die Abrechnung erfolgt über die regionalen Kassenärztlichen Vereinigungen. Gesetzlich Versicherte werden nach dem sogenannten EBM-Tarif abgerechnet, privat Versicherte nach der GOÄ – der Gebührenordnung für Ärzte.
Und wie funktioniert das Versicherungssystem selbst? Was könnte für ein Land wie Aserbaidschan, das derzeit ein eigenes Gesundheitssystem aufbaut, nützlich sein?
Das deutsche Gesundheitssystem basiert auf dem Solidarprinzip. Es soll sicherstellen, dass jede Person – unabhängig vom Einkommen – Zugang zu medizinischer Versorgung hat. Im Zentrum steht die Krankenversicherungspflicht: Jede*r in Deutschland lebende Mensch muss versichert sein.
Es gibt zwei Hauptformen: die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) und die private Krankenversicherung (PKV). Etwa 90 % der Bevölkerung sind gesetzlich versichert. Die GKV funktioniert nach einem Umlageverfahren: Die Beiträge richten sich nach dem Einkommen, nicht nach dem individuellen Gesundheitsrisiko. Wer mehr verdient, zahlt mehr. Niedrigverdienende Angehörige wie Kinder oder nicht arbeitende Ehepartner sind ohne Zusatzkosten mitversichert. Die Leistungen sind gesetzlich geregelt und garantieren theoretisch eine medizinisch notwendige, wirtschaftliche und zweckmässige Versorgung.
Die übrigen 10 % sind privat versichert – meist Selbstständige, Beamte oder Menschen mit hohem Einkommen. Die PKV funktioniert kapitalgedeckt: Die Beiträge hängen von Alter, Gesundheitszustand und Leistungsumfang ab. Das schafft in der Praxis eine erhebliche Kluft: Privatversicherte erhalten oft schnellere Termine, individuellere Behandlungen und mehr Flexibilität – nicht, weil Ärzt:innen bewusst unterscheiden, sondern weil es die finanziellen Anreize des Systems so vorgeben.
Um es deutlich zu sagen: Ein privat versicherter Patient bringt ein Vielfaches mehr ein als ein gesetzlich Versicherter. In einem Umfeld mit chronischem Personalmangel, administrativer Überlastung und finanziellen Engpässen prägt diese Ungleichheit zwangsläufig den Alltag. Die Wartezeiten für gesetzlich Versicherte werden länger, der Zugang zu bestimmten Diagnostiken oder Therapien schwieriger – nicht, weil sie medizinisch unnötig wären, sondern weil sie wirtschaftlich weniger attraktiv sind.
Kurz gesagt: Wir haben es mit einer realen Zwei-Klassen-Medizin zu tun. Das ist keine ideologische Kritik – das ist das, was wir täglich in Kliniken und Praxen beobachten. Und das wirft eine grundsätzliche Gerechtigkeitsfrage auf: Wenn der Zugang zur Versorgung stärker vom Versicherungsstatus als vom medizinischen Bedarf abhängt, verliert die Gesellschaft allmählich das Vertrauen in die Integrität des Systems.
Wenn Sie es zusammenfassen müssten – was sind die grössten Stärken und Schwächen des deutschen Versicherungsmodells?
Die grösste Stärke ist, dass niemand in Deutschland ohne Krankenversicherung bleibt. Das ist international betrachtet keine Selbstverständlichkeit. Jede Person – unabhängig von Herkunft, Einkommen oder Vorerkrankungen – hat theoretisch Anspruch auf medizinische Behandlung. Das ist ein zivilisatorischer Fortschritt.
Die Schwäche liegt in der Kluft zwischen Theorie und Praxis. Ja, alle sind versichert – aber im Alltag erleben wir täglich Ungleichheiten. Privatversicherte kommen schneller dran, erhalten umfassendere Diagnostik und individuellere Therapien – einfach weil es sich mehr lohnt. Das ist kein Vorwurf an einzelne Ärzt:innen – das ist ein strukturelles Problem. Wenn ökonomische Anreize stärker wirken als medizinische, läuft etwas grundsätzlich falsch. Und immer mehr Menschen spüren das – durch lange Wartezeiten, abgelehnte Therapien oder schlicht das Gefühl, ein „Patient zweiter Klasse“ zu sein.
Sie haben die wirtschaftlichen Ungleichgewichte im System angesprochen. Ein besonders prägnantes Beispiel ist das sogenannte DRG-Modell, bei dem Krankenhäuser für Diagnosen einen Pauschalbetrag erhalten. Wie wirkt sich diese Logik auf Ärzt:innen – und auf Patient:innen – aus?
Das DRG-System stellt die wirtschaftliche Logik ins Zentrum der stationären Versorgung. Für jede Diagnose gibt es einen festen Erstattungsbetrag – unabhängig davon, wie komplex oder zeitaufwendig der individuelle Fall tatsächlich ist. In der Praxis bedeutet das: Jede Behandlung muss sich „rechnen“, sonst gerät das Krankenhaus in wirtschaftliche Schieflage.
Dadurch entsteht ein grundlegender Konflikt zwischen medizinischer Notwendigkeit und wirtschaftlicher Effizienz – und das spüren wir jeden Tag.
Ärzt:innen stehen ständig unter Druck: Alles muss dokumentiert werden, Budgets müssen eingehalten, betriebswirtschaftliche Vorgaben erfüllt werden. Für individuelle Betreuung, interdisziplinären Austausch oder echte Gespräche mit Patient:innen bleibt immer weniger Zeit. Das System belohnt kurze, standardisierte Lösungen. Das ist nicht per se unethisch – aber es verschiebt den Fokus weg vom Heilen hin zum Verwalten.
Für Patient:innen bedeutet das: eine medizinisch moderne, aber oft unpersönlich wirkende Versorgung. Besonders ältere und chronisch kranke Menschen leiden darunter – sie brauchen schlicht mehr Zeit und Zuwendung. Wenn das System Profitabilität über Menschlichkeit stellt, verlieren wir nicht nur klinische Entscheidungsfreiheit – wir riskieren, Empathie zu einem Luxusgut zu machen.
Wie hat sich die Arzt-Patient-Beziehung in den letzten Jahren verändert – und wie viel davon ist auf strukturellen Druck zurückzuführen?
Früher war die Beziehung zwischen Arzt und Patient persönlicher, vertrauensvoller und langfristiger geprägt. Ärzt:innen kannten ihre Patient:innen oft über Jahre hinweg. Das ist heute immer seltener, vor allem wegen Zeitmangel, hoher Fallzahlen und wachsender bürokratischer Anforderungen.
Für echte Gespräche fehlt häufig die Zeit. Patient:innen kommen mit Sorgen und Hoffnungen – und spüren schnell, dass kein Raum für sie da ist. Gleichzeitig hat die Papierflut drastisch zugenommen. Ärzt:innen verbringen mehr Zeit mit Codierungen, Formularen und Berichtspflichten als mit den Menschen selbst. Es mangelt nicht an Empathie – sondern an der Möglichkeit, sie auszuleben.
Die Folge ist eine wachsende Entfremdung. Patient:innen fühlen sich abgefertigt statt verstanden. Das führt zu Enttäuschung, Frustration, manchmal auch zu Aggression. Dabei ist die Arzt-Patient-Beziehung selbst ein therapeutisches Element. Wenn wir das verlieren, kann kein Algorithmus der Welt das ersetzen.
Sie haben Digitalisierung angesprochen. Warum ist Deutschland in diesem Bereich so rückständig – und was müsste passieren, damit Technik wirklich hilft statt zu belasten?
Die Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen hinkt massiv hinterher. Teilweise liegt das an berechtigten Datenschutzbedenken – es geht um hochsensible Informationen. Aber das eigentliche Problem ist die Zersplitterung. Jeder Bereich – ambulant, stationär, Reha – hat eigene, nicht kompatible IT-Systeme. Sie „sprechen“ nicht miteinander. Das Ergebnis ist ein digitaler Flickenteppich, der Abläufe verlangsamt und Informationsverluste begünstigt.
Das zeigt sich besonders im klinischen Alltag. Ärzt:innen verbringen mehr Zeit mit Formularen als mit Patient:innen. Es gibt immer noch handschriftliche Notizen, doppelte Dateneingaben und IT-Systeme, die eher behindern als unterstützen. Das führt zu massiver Überlastung – nicht nur bei Ärzt:innen, sondern im gesamten Gesundheitsbereich. Digitale Werkzeuge könnten entlasten – aber im Moment wirken sie oft wie eine zusätzliche Bürde.
Dabei ist das Potenzial enorm: Ein sicheres, einheitliches digitales Netzwerk, das alle Leistungserbringer verbindet, könnte Zeit sparen, Doppeluntersuchungen vermeiden und in Notfällen lebenswichtige Informationen verfügbar machen. Dafür braucht es aber politischen Willen, klare Standards und ein Ende des föderalen Flickwerks.
Für mich ist die Kernbotschaft klar: Digitalisierung muss den Menschen dienen – nicht umgekehrt. Technologie ist ein Mittel, kein Selbstzweck. Wir brauchen keine digitale Revolution, sondern eine kluge, menschliche Weiterentwicklung – eine, die uns das zurückgibt, was wirklich zählt: Zeit für unsere Patient:innen.
Sie arbeiten mit Menschen unterschiedlichster Herkunft. Wie stark prägt Kultur das Verhalten von Patient:innen – und wie geht das medizinische Personal in einem so diversen Land wie Deutschland damit um?
Das ist ein Thema, das mir sehr am Herzen liegt. Deutschland ist heute ein extrem vielfältiges Land, und das spürt man gerade in der Medizin sehr deutlich. Es ist faszinierend zu sehen, wie unterschiedlich Menschen aus verschiedenen Kulturen mit Krankheit, Schmerz und dem Begriff „Heilung“ umgehen.
Ich bin oft beeindruckt davon, wie viele deutsche Patient:innen sich verhalten – ruhig, respektvoll, mit tiefem Vertrauen ins medizinische Personal. Selbst in schwierigen Situationen zeigen sie Geduld, Rationalität und ein ausgeprägtes Gefühl für Ordnung.
Im Vergleich dazu – und ich spreche hier ganz allgemein – reagieren Menschen aus süd- oder osteuropäischen bzw. nahöstlichen Kulturen oft emotionaler. Die Familien sind viel stärker involviert, die Erwartungen an Kommunikation sind deutlich höher. Verwandte erscheinen häufig in Gruppen, stellen viele Fragen – oft mehrfach – und erwarten detaillierte, sofortige Auskünfte, auch wenn das logistisch schwer zu leisten ist.
Das ist kein Vorwurf, sondern ein kultureller Unterschied. In einem internationalen Gesundheitsumfeld müssen wir darauf mit Professionalität und Menschlichkeit reagieren. Für uns im medizinischen Bereich heisst das: diese Vielfalt respektieren und lernen, flexibel damit umzugehen, ohne dabei unsere ethischen Grundwerte zu verlieren.
Zum Schluss eine persönlichere Frage. Neben Ihrer klinischen Arbeit engagieren Sie sich in der Caspian-Alpine Society, einer in der Schweiz ansässigen NGO. Wie sieht Ihre Rolle dort aus – und was sind die Ziele der Organisation?
Die Caspian-Alpine Society ist eine Plattform, die den Dialog zwischen dem Kaspischen Raum – insbesondere Aserbaidschan – und dem deutschsprachigen Raum fördert. Ziel ist es, Brücken zwischen Politik, Wirtschaft, Kultur und Bildung zu schlagen. Wir verstehen uns nicht als klassische Diasporaorganisation, sondern eher als Think Tank, der aserbaidschanische und internationale Fachleute zusammenbringt, um nachhaltige Verbindungen zwischen Gesellschaften zu schaffen – jenseits von Stereotypen.
Meine Rolle ist hauptsächlich fachlich-analytisch. Ich helfe bei der inhaltlichen Gestaltung unserer Veröffentlichungen und beteilige mich an Projekten mit der Diaspora und Partnern aus der Region.
Eine besondere Rolle spielt dabei auch die Geografie. Ich vertrete den Bodenseeraum, der die Schweiz, Deutschland und Österreich verbindet. Das schafft einzigartige logistische und kulturelle Möglichkeiten. An einem beliebigen Vormittag kann ich in allen drei Ländern unterwegs sein – und überall in einer gemeinsamen professionellen Sprache arbeiten. In diesem mehrschichtigen Kontext liegt enormes Potenzial für neue Formen der Zusammenarbeit.
Aber jenseits des institutionellen Rahmens ist es auch ein zutiefst menschliches Engagement. Viele von uns sind durch Migration geprägt und tragen das Bedürfnis in sich, mit der Herkunft verbunden zu bleiben und zugleich zur Gastgesellschaft beizutragen. Dieser doppelte Blick schärft oft unser Gespür für Nuancen – wir wissen, was es heisst, sich zwischen Systemen, Werten und Erwartungen zu bewegen. Und wir lernen dabei Demut und Neugier – beides ist essenziell für interkulturellen Dialog.
Was mich letztlich motiviert, ist die Überzeugung, dass wir etwas Langfristiges aufbauen – nicht nur Events oder Texte, sondern Beziehungen. Beziehungen, die politische Veränderungen, Generationenwechsel und kulturelle Missverständnisse überdauern können. Das ist nicht immer glamourös und schon gar nicht schnell – aber es ist sinnstiftend. Und in einer zunehmend fragmentierten Welt ist genau diese Art von Brückenarbeit wichtiger denn je.