Das Ballett Aserbaidschans: Ein bedeutendes Kulturerbe – Ursprung und historische Entwicklung

Ballett Leila und Madschnun

Die sorgfältig bewahrten Muster der Kultur des aserbaidschanischen Volkes – traditionelle, nur von Frauen aufgeführte Tänze mit ihrer erlesenen erotischen Choreografie und auch die lebhaften Gruppentänze, ohne die keine einzige Feier stattfindet, gingen in das Repertoire der professionellen Ensembles ein und wurden zu einer Form moderner Performance.

Als Mitte des 19. Jh. in Baku durch die Bemühungen von progressiv gesinnten Gönnern und Verfechtern der nationalen Kultur Theaterhäuser entstanden, begannen zunehmend Amateur- und private Truppen, die temperamentvollen Volkstänze in die Konzertprogramme und als zusätzliche Szenen in Aufführungen aufzunehmen.

Gamer Almaszade mit den künftigen klassischen Tänzerinnen aus der Bakuer Choreografieschule

Als sehr populäre und nach Beweglichkeit, Vielfalt und Emotionen der Bewegungen ausgewählt, schmückten diese Tänze die Produktionen der Opern sowie der dramatischen Bühnen, und die Gastspiele der Meister der Ballettszene weckten beim Publikum in Baku auch ein grosses Interesse an der klassischen Choreografie. Dieses Interesse führte zudem zur Schaffung von Tanztruppen, die mit der Zeit ihre Professionalität steigerten. Und so kam es, dass im Jahr 1910 in Baku nach dem Vorbild der europäischen Hauptstädte ein Opern- und Balletttheater mit einem Saal für 2000 Zuschauer errichtet wurde!

Im Theater entwickelten sich Balletttruppen und in Baku wurden Anfang der 20er Jahre neue Ballettstudios gegründet. Nachdem sie viele Veränderungen durchlaufen hatten, standen die Ballettstudios seit 1923 unter der Leitung der Organe der Volksaufklärung, die die professionellen Lehrer einluden und eng mit dem Theater für Oper und Ballett zusammenarbeiteten. 1930 wurde die Bakuer Choreografieschule gegründet. Diese übernahm auch die Aufgabe, die Tänzer auf die Truppe vorzubereiten, deren Ziel jedoch zu dieser Zeit noch nicht darüber hinaus ging, das russische Theater nachzuahmen.

Mit der Zeit jedoch konnte sich das aserbaidschanische Ballet von diesem Vorbild lösen und entwickelte zunehmend eine eigenständige kulturelle Identität.

Bis heute existiert die Legende über die Geschichte des kleinen Mädchens Gamer, das nach dem Vorbild ei ner Nachbarin mit fünf Rubel zu einem privaten Ballett studio ging, die sein Papa ihm für „Sport“ gegeben hat te. Immer noch erzählt man sich die Begebenheiten aus Gamers Leben, die zur ersten Balletttänzerin Aserbaidschans avancierte. Sie war es, die eine Verantwortung für diese Art von Kunst fühlte und mit Enthusiasmus alles dafür tat, um diese zu einem hohen Niveau zu führen und damit gebührt ihr der Hauptverdienst um die Schaffung des aserbaidschanischen Balletts.

Und wieder wie vom Schicksal vorgezeichnet, besuchte Gamer die Leningrader Choreografieschule, nachdem sie die in Baku absolviert hatte, um ihre Tanzkunst weiterhin zu vervollkommnen. Dort traf und heiratete sie den zukünftigen aserbaidschanischen Komponisten Afrasijab Badalbejli, der sich ebenfalls zu dieser Zeit in Leningrad in die Geheimnisse der Ballett kunst einweihen liess. Gamer und ihr Ehemann kehrten danach mit dem fast fertigen, von Afrasijab Badalbejli komponierten Ballettstück „Der Mädchenturm“ nach Baku zurück. Dieses Stück wurde zum ersten nationalen Ballett Aserbaidschans, zu dessen Entstehung die erste Balletttänzerin des Landes, Gamer Almaszade, ebenfalls erheblich beigetragen hatte.

Das Libretto, der Nationalgeist, die Verwendung von Volksmusikinstrumenten in Partituren sowie die beliebten Volkstänze in der choreografischen Zeichnung von tanzenden Paaren – dies alles erwärmte ihr Herz und nährte ihren Glauben an die eigenen Stärken und Fähigkeiten, auch die ehrgeizigsten Pläne umsetzen zu können.

Die Geburt des Balletts „Der Mädchenturm“, dessen Uraufführung im staatlichen Theater für Oper und Ballett im Jahr 1940 stattfand, wurde zu einem wirklichen Durchbruch für die Ballettbühne Aserbaidschans. Gamers persönliche Eigenschaften sowie ihre gute Ausbildung und Verbindungen zu der Choreografie-Elite Russlands aus ihren Studienjahren, die Teilnahme am Prozess der Schaffung einer neuen grossen nationalen Kultur und viele andere Fähigkeiten erlaubten ihr, für viele Jahre Leiterin der Oper- und Balletttruppe des Staatstheaters Aserbaidschans zu werden, das sich nach Strömungen verschiedener choreografischer Schulen weltweit ausrichtete. Als Hauptchoreografin der Balletttruppe für Oper und Ballett des Staatstheater Aserbaidschans, bestimmte sie 37 Jahre lang den Entwicklungsweg dieser Truppe. Dass dieses Ballettensemble sich bis heute durch besondere Kreativität auszeichnet und auf höchstem künstlerischem Niveau agiert, ist Almaszade zu verdanken, die die wesentlichen Grundsteine dafür legte.

Balletttänzerin Leila Wekilowa

Parallel zu G. Almaszade, gab es zwei weitere Absolventinnen der Bakuer Choregrafieschule, Irina Mikhajlitschenko und Leila Wekilowa, die als Balletttänzerinnen in vielen Aufführungen glänzten und letztere später Volkskünstlerin der Sowjetunion werden sollte. Nach Abschluss ihrer Ausbildung in Moskau eroberte Wekilowa im Sturm die Bühnen, um alle mit ihrer virtuosen Technik zu bezaubern. Leila Wekilowa wurde für mehrere Jahrzehnte berühmt als Darstellerin vieler anspruchsvollen Partien. Gleichzeitig bildete sie neue Balletttänzerinnen und Tänzer in den Räumen der Bakuer Choregrafieschule aus und folgte Gamer Almassadeh auf den Posten als künstlerische Leiterin dieser Schule.

Maksud Mammadow wurde in den 1950er Jahren der erste bekannte Balletttänzer Aserbaidschans. Seine einzigartigen Fähigkeiten und harte Arbeit ermöglichten es ihm, zum Besten in seiner Truppe zu werden und dies mit Erfolg und sowohl in der gesamten Sowjetunion als auch im Ausland mit berühmten Balletttänzerinnen aus Russland, im Paartanz aufzutreten.

Das Ballett wurde zur so zu einer herausragenden Erscheinung der aserbaidschanischen Kultur, so dass die besten Komponisten ihren Blick darauf richteten und nacheinander neue aserbaidschanische Ballettstücke erschienen, die weit über die Grenzen der Republik grosse Anerkennung erfuhren. Es ist schwer, die Kaskade von Produktionen aufzulisten, um den endlosen Strom an Werken, der über die aserbaidschanischen Ballettbühnen floss, zu beschreiben. Nicht nur helle, schöne, sondern auch philosophisch kluge und romantische Ballettstücke wie „Sieben Schönheiten“ und „Durch den Donnerpfad“ von Gara Garajew, „Gülschen“ von Soltan Hadjibeyow, die „Legende der Liebe“ von Arif Melikow verdienen besondere Erwähnung. Den genannten Werken folgten weitere grossartige wie „Schur“, „Mugham“, „Tausendundeine Nacht“ von Fikret Amirow sowie „Babek“ von Agschin Alizade.

Mitte der 60er Jahre erschienen neue Stars auf den Bühnen des aserbaidschanischen Balletts, ebenfalls talentierte Absolventen der Bakuer Choregrafieschule, wie Tschimnas Babajewa, Tamilla Schiralijeva, I. Nizameddinowa, R. Zejnalov, R. Arifullin, G. Polatkhanow und W. Akhundow.

Als grosser Triumph wurden die Gastspiele und einzelnen Auftritte des aserbaidschanischen Balletts in Moskau, Leningrad, Kiew, Minsk, Tiflis, Taschkent, Gorki, Rostow, Saratow und anderen Städten gefeiert. Aserbaidschanische Ballettstücke wurden in diesen Jahren sogar zweimal in Frankreich präsentiert, wo sie am Pariser Forum teilnahmen und mit dem Diplom der Pariser Tanzakademie ausgezeichnet wurden.

Die Krise der 90er Jahre hatte viele Bereiche der Kultur deutlich geschwächt, so auch das Ballett, das in den letzten zwei Jahrzehnten dennoch wieder staatliche Förderungen erhielt und so viele Schwierigkeiten überwinden konnte, um sich der neuen Zeit anzupassen. Um wieder normale Arbeitsbedingungen zu schaffen, machte sich insbesondere eine deutliche Erhöhung des Gehalts der Balletttänzer positiv bemerkbar sowie gründliche Renovierungen der Räumlichkeiten des Opern- und Balletttheaters. Zudem wurden mehr finanzielle Mittel für neue Produktionen bereitgestellt.

Anatoli Urwantsew und Leila Wekilowa im Ballettstück „Der Mädchenturm“

In diesen schwierigen Zeiten war über viele Jahre die erfahrene Balletttänzerin Medina Alijewa die Primaballerina der Truppe, die nun als die Volkskünstlerin Aserbaidschans gilt. Dank ihrer Bemühungen und Leistungen blieb das Theater keinen Tag geschlossen und bot regelmässig mehrere Aufführungen, deren zentrale Figur sie selbst war.

1997 bereitete die Truppe die zwei Uraufführungen des eingeladenen Choreografen G. Kowtun vor: die Ballettstücke „Romeo und Julia“ zur Musik P. Tschaikowskys und „Harlekinade“ zur Musik von G. Donizetti und stützte sich dabei weitgehend auf die jungen Balletttänzer, die kurz zuvor die Choreografieschule absolviert hatten. Dies war ein neuer Durchbruch in der Geschichte des aserbaidschanischen Balletts. Zwei Jahre später versuchte der leitende Choreograf P. Agaljaj seine eigene Version des berühmten Balletts „Carmen Suite“ zur Musik von Bizet-Schedrin aufzuführen. Er arbeitete mit begabten Solisten, deren Partien er mit sehr komplexen Kombinationen von Körperbewegungen gestaltete. So debütierten in der Chronik des Theaters erfolgreich Naira Ramasanowa, die eine sehr junge und furchtlose Carmen virtuos darstellte, sowie der sehr ausdrucksvolle und inspirierte Tänzer Gülagasi Mirzajew in der Rolle von José und sein Kollege Yuri Lobachev, der den Part des Stierkämpfers hervorragend spielte.

Diese drei Darsteller wurden zur wichtigsten Stütze für Agalijaj, auch für den ungewöhnlichen Beitrag der Truppe zur Miniaturenmusik „Weisse und Schwarze“ des    Komponisten Khajjam Mirzazade.

Es ist kein Zufall, als etwas später der berühmte Ballettmeister Georgi Aleksidse, während er das Einakterballett „Leyli und Mädschnun“ zur Musik „Symphonisches Gedicht“ von Gara Garajew aufführte, sich mit Bewunderung über das Können eines prächtigen Paares

– Rimma Iskenderowa und Gülagasi Mirzajew – äusserte: wie diese es geschafft hätten, ein kleines, harmonisches Duo zu bilden, das auf der Ballettbühne die stärksten romantischen Charaktere verkörpern könnte.

Was heute das aserbaidschanische Ballett auszeichnet, ist seine kreative Entwicklung und die Herausbildung eindrucksvoller Tänzer und natürlich vor allem sein stetig gewachsenes und breites Repertoire. In den letzten Jahren wurden die klassischen Einakterballette

Gamer Almaszade in der Oper U. Hadschibejows „Koroglu“

„Chopiniana“, „Paquita“ wieder neu aufgeführt. Ausserdem wurden „Kaspische Ballade“ T. Bakikhanows, „Bolero“ nach Ravel, „Versuchung“ zur Musik der „Klassischen Symphonie“ von S. Prokofjew und „Rast“ nach Nijazi inszeniert und erschienen abwechselnd im Theaterprogramm. Unter den Darstellern der wichtigsten Partien erschienen zusätzlich Kamile Hüsejnowa, Jelena Skomoroschenko, Sabina Hajidadasch, Yulia Kalmykowa, Alsu Gimadajewa, Tamilla Mammadowa, Nigar Ibrahimowa und andere Balletttänzerinnen und -tänzer.

Es war niemals einfach, die geeigneten Männer für die Zusammensetzung der Truppe auszuwählen, aber auch in dieser Hinsicht hat sich offensichtlich etwas verändert. Aus der Zahl jener junger Tänzer, die das Diplom der Choreografieschule erhalten und sich fest für den Beruf des klassischen Tänzers entschieden haben, sind in den letzten Jahren interessante Solisten sowie Darsteller von Haupt- und führenden Rollen hervorgegangen.

Im Ballett gibt es viele Schwierigkeiten und Herausforderungen, denn neben der starken physischen Belastung gibt es noch zahlreiche andere zu meisternde Feinheiten, z.B. zu welcher Seite man schaut, ob man das Bein voll streckt, ob man erfolgreich nach Umdrehungen innehält, aus welcher kanonischen Position heraus die Bewegung ausgeführt wird, ob diese Position gehalten wird und ob sie mit der musikalischen Phrase harmoniert.

Dies charakterisiert die Schule der ersten aserbaidschanischen Balletttänzerin Gamer Almaszade, einer brillanten Tänzerin der Leningrader Schule, einer charmanten, liebreizenden Frau, der wichtigsten Gestalt des seit etwa 100 Jahren bestehenden Balletts Aserbaidschans.

Und daher ist es kein Wunder, dass eine solche Schule nicht nur die schwierigen Jahren der Krise überwinden konnte, sondern sich auch durch die Förderung der Ballettkunst beständig weiter entwickeln und viele neue Aufführungen schaffen konnte.

Aserbaidschanisches Staatliches Akademisches Opern- und Balletthaus

Als der bekannte aserbaidschanische Komponist Polad Bülbüloglu dem Theater die Partitur und das Libretto des Balletts „Liebe und Tod“ – basierend auf dem Epos „Dede Gorgud“ – vorschlug, war das Theater schon bereit, an so einer umfangreichen, komplexen und aussergewöhnlichen Aufführung zu arbeiten. Das Ballett„Liebe und Tod“ war nicht nur in Baku erfolgreich, sondern wurde auch vom Publikum in St. Petersburg sehr begrüsst.

Viele Jahre wurde eine der herausragendsten Leistungen des aserbaidschanischen Balletts, das 1952 von Gara Garajew geschaffene Ballett „Die Sieben Schönheiten“, nach dem Meisterwerk des Klassikers der aserbaidschanischen Literatur Nizamis, nicht mehr aufgeführt, aber schliesslich zeigte das Theater den Menschen in Baku eine moderne Version dieses Spektakels. Ein neues Libretto, neue Musikarrangements sowie neue Dekorationen veränderten das Ballett, um es einem modernen Publikum näherzubringen, was sich als eine sehr komplizierte und anspruchsvolle Aufgabe erwies.

Wenn es den Solisten gelingt, bei der Aufführung die Tänze plastisch zu erfüllen, sorgt die Musik des grossen aserbaidschanischen Komponisten für grosse Intensität, die in jeder Phrase der Partitur des Maestro erklingt, und, das ist erfreulich.

Das Theater konnte auch den alten Traum seiner jungen Zuschauer erfüllen – vor einigen Jahren wurde hier das Ballett „Aschenbrödel“ aufgeführt, inszeniert von der als Ehrengast eingeladenen Gastchoreografin Lija Sabitowa zur Musik von Johann Strauss. Besonders bemerkenswert war hier, dass im Stück viele noch sehr junge Schüler aus der Bakuer Choreografieschule auftraten und die Hauptpartie durch die noch sehr junge Zweitklässlerin Günaj Ismayilowa dargestellt wurde, die mit erfahrenen Mentoren arbeitete.

All dies lässt uns hoffen, dass die professionelle Balletttruppe, die über Jahrzehnte Tausende von Bewunderern für das Theater gewonnen hat, weiterhin das Publikum erfreuen wird. Mit Hilfe der Ballettkunst wird das Wissen der Menschen über Musik, Choreografie und Literatur bereichert sowie deren Fähigkeit erweitert, spirituelle Werte wertzuschätzen, um sich den Gipfeln der nationalen und der Weltkultur anschliessen zu können.

Galina MIKELADSE

Schauspielerin

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